aus den Verbindungsdaten eines Telefonanschlusses lässt sich andscheinend ablesen wie kriminell jemand ist.

BKA ist dafür, Bundesgerichtshof dagegen, EU-Brüssel ist wieder dafür, das Bundeskabinett ist ratlos.

http://ausweichsitz.de/content/view/129/39/

Brauner Bretterzaun (ergänzt am 5.12.2009) PDF Drucken E-Mail
Mittwoch, 04. November 2009

Theo Saevecke: Vom NS-Kriegsverbrecher zum Sicherheitschef im Regierungsbunker

Selten hat ein Beitrag auf dieser Internetseite ein so starkes Echo ausgelöst, wie der um Theo Saevecke. Selbst Mitarbeiter des Bunkers, die 1972 die Anlage verließen, meldeten sich mit ihren Erinnerungen und Fotos – darunter das aktualisierte Bild der Startseite, das den Sicherheitschef des Bunkers vor dem Dienstellengebäude in Marienthal zeigt. Eines der ganz wenigen Bilder aus der Epoche „Saevecke-Regierungsbunker“.

Selten hat ein Beitrag auf dieser Internetseite ein so starkes Echo ausgelöst, wie der um Theo Saevecke. Selbst Mitarbeiter des Bunkers, die 1972 die Anlage verließen, meldeten sich mit ihren Erinnerungen und Fotos – darunter das aktualisierte Bild der Startseite, das den Sicherheitschef des Bunkers vor dem Dienstellengebäude in Marienthal zeigt. Eines der ganz wenigen Bilder aus der Epoche „Saevecke-Regierungsbunker“.

Der Aktenfund im Koblenzer Bundesarchiv ist ein Schwergewicht, der Inhalt hat es in sich: Hat das Bundesinnenministerium schwer NS-belastete Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes auf der Baustelle des Regierungsbunkers, später „Dienststelle Marienthal“, in leitender Funktion eingesetzt? Jetzt erstmals im Bundesarchiv ausgewertete Akten des Bundesministerium des Innern (BMI) belegen: Mindestens zwei Mitarbeiter in der Leitung des Referates Sicherheit des Regierungsbunkers waren während der NS-Zeit aktiv in SS, SD, Gestapo bzw. Geheimer Feldpolizei an Kriegsverbrechen beteiligt. Die Recherchen, in die sich auch ehemalige Mitarbeiter der „Dienststelle Marienthal“, ein leitender BKA-Mitarbeiter a.D., Krimi-Autor Jacques Berndorf (Eifel-Krimis) sowie die Staatssicherheit (Hauptverwaltung Aufklärung) der DDR einbrachten, geben Einblicke in ein bislang völlig unbekanntes Kapitel um das „Staatsgeheimnis Nummer 1“.

Es ist sicherlich eine der ungewöhnlichsten Biografien, die ein Mensch in den vergangenen 100 Jahren schreiben konnte: Ein Kriminalbeamter, der 1938 die erste Verbrechensfahndung im Fernsehen mitinitiiert und da schon SA-Mitglied ist, anschließend NSDAP, SS, SD und Gestapo. Der Polizei-Einsätze in Libyen und Tunesien leitet und „mit großem Erfolg die Judenfrage bearbeitet“, wie es in einer dafür verliehenen Auszeichnung heißt. Als Gestapo-Chef im italienischen Mailand wird er zum öffentlichen Mörder: Als Vergeltungsmaßnahme für Anschläge auf Wehrmachts-Soldaten lässt er 15 Geiseln auf einem großen Platz im  Mailänder Stadtzentrum vor Publikum erschießen, schickt mit seiner Unterschrift mehr als 700 italienische Juden kurz vor Kriegsende in die Vernichtungslager. Die Italiener nennen ihn ab nun „Mörder von Mailand“. Dann kriegsgefangen, anschließend Mitarbeiter der CIA, schließlich Mitarbeiter im Bundeskriminalamt. Eng dran an den Bundesinnenministern Schröder und Höcherl, dem Verteidigungsminister Strauß und mitten drin in der „Spiegel“-Affäre. Doch in der bislang bekannten Biografie des Theo Saevecke steht für die letzten Berufsjahre ein großes Fragezeichen. Bis jetzt …

Ein Sichtschutzzaun schützt die Baustelle vor neugierigen Blicken – im Bild der Hauptzugang West in Marienthal. Doch der „braune Bretterzaun“ verbirgt auch ein ganz anderes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, denn das BKA mustert „Kriegsverbrecher im kriminologischen Sinne „ (BKA-Direktor Dieter Schenk) nach hierher systematisch aus.

Ein Sichtschutzzaun schützt die Baustelle vor neugierigen Blicken – im Bild der Hauptzugang West in Marienthal. Doch der „braune Bretterzaun“ verbirgt auch ein ganz anderes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, denn das BKA mustert „Kriegsverbrecher im kriminologischen Sinne „ (BKA-Direktor Dieter Schenk) nach hierher systematisch aus.

Was dem bisher bekannten Wirken folgt, ist nicht weniger spektakulär. Saevecke ist für die Sicherheit in einem hochsensiblen Bereich der Bundesregierung tätig – das geht aus jüngst freigegebenen Unterlagen des Bundesarchivs und Zeitzeugenaussagen hervor. Von 1964 bis 1971 ist er im Auftrag des Bundeskriminalamtes zuständiger Sicherheitschef im Regierungsbunker, Deutschlands Staatsgeheimnis Nummer 1. Eine Ideallösung, um den umtriebigen Kriminalisten aus allen Schusslinien öffentlicher Kritik zu ziehen, denn den Bunker gibt es offiziell nicht – und damit auch keinen Theo Saevecke. Gut versteckt auf einer „schutzbedürftigen Baustelle“ des Bundes mit hohen Sicherheitsauflagen, die von Staats wegen durch niemanden hinterfragt werden dürfen, verschwindet Saevecke im Ahrtal hinter einem – nun – braunen Bretterzaun.

Rückblick

Theo Saevecke auf einem Bild aus der Vorkriegszeit, das dem DDR- Archiv (ADN; Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst) entstammt und in einem polnischen Aktenbestand der GESTAPO gefunden wurde.

Theo Saevecke auf einem Bild aus der Vorkriegszeit, das dem DDR- Archiv (ADN; Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst) entstammt und in einem polnischen Aktenbestand der GESTAPO gefunden wurde.

Theo Saevecke. Er habe „bei fast allen Einsätzen an vorderster Linie im Kampf gestanden“, wird sein Vorgesetzter noch kurz vor Kriegsende über den Polizisten sagen, dessen Biografie in den Jahren 1939 bis 1945 um diverse Kriegsverbrechen bereichert wird.

Doch mit der Gefangennahme im April 1945 wird die Vita Saevecke zur wahren Wundertüte. Zwar sitzt er im alliierten Internierungslager ein, wird von den Amerikanern an die Briten für Befragungen überstellt, dann zurück überstellt; doch eine Bestrafung oder Verurteilung für sein Handeln als Polizist im 3. Reich erfolgt nicht. Stattdessen beschließt der US-Geheimdienst CIA, die Talente, das Wissen und die Fähigkeiten Saeveckes zu nutzen. Der – immer noch überzeugte – Nazi ist ein Wunschkandidat der Geheimdienstler und wird als CIA-Mitarbeiter in ihren Reihen aufgenommen.

Das allerdings ist dem Bundesinnenministerium bei der Einstellung Saveckes im gerade gegründeten Bundeskriminalamt 1952 nicht bekannt – und wird es auch nie werden. Saevecke ist gegenüber den deutschen Behörden zugeknöpft, was seine transatlantische Partnerschaft angeht. Auf Nachfrage des Bundesinnenministeriums zu seiner Vergangenheit verschleiert Saevecke die Jahre 1948 bis 1952 und gibt gegenüber dem BKA an: „Bediensteter der Neu-Kölln-Mittenwalder Bahn“ bzw. „arbeitslos“ (1950-52; Quelle: Bundesarchiv Koblenz, BArch, Koblenz, B 106, 111 / 110).

Das Bundeskriminalamt selbst bietet Sicherheit mit Blick in Saeveckes NS-Lebenslauf: Die meisten der leitenden BKA-Beamten (1959 sind es 45 von 47) haben eine nationalsozialistische Vergangenheit, „ungefähr die Hälfte, darunter auch Saevecke, seien als NS-Verbrecher im kriminologischen Sinne zu betrachten“, stellt Dieter Schenk fest, der als ehemaliger leitender BKA-Beamter die braunen Wurzeln des Bundeskriminalamtes in seinem Buch „Auf dem rechten Auge blind“ untersuchte. Und Saevecke hat gewichtige Fürsprecher: Seine Einstellung findet Unterstützung durch Bundesinnenminister Gerhard Schröder und Staatssekretär Hans Ritter von Lex. In kürzester Zeit nimmt die Karriere Saeveckes im BKA Fahrt auf, denn nach seiner Anstellung im Januar 1952 ist er ein halbes Jahr später bereits Kriminalkommissar. 1953 wird er zum Kriminalrat befördert, 1956 zum Regierungskriminalrat  – und zum Leiter des Referats Hoch- und Landesverrat bestellt. Da stört es nicht einmal, dass die kurz zuvor nach der italienischen Forderung auf Verhaftung wegen Kriegsverbrechen eingeleitete Untersuchung des Bundesinnenministeriums eine zeitweise Suspendierung einschließt. Unverhofft tauchen im Bundesinnenministerium Unterlagen auf, die Saevecke entlasten. Herbeigeschafft wurden die durch seinen heimlichen Zweit-Arbeitgeber CIA und gelangen über Umwege ins BMI – ohne dass das deutsche Ministerium wissen kann, woher die Akten stammen. Ein Poker auf höchstem Niveau zwischen dem US-Geheimdienst und dem Bonner Innenministerium, und Saevecke mittendrin. Der Kriminalpolizist ist für die CIA längst eine wichtige Quelle im deutschen Regierungsapparat.

Saeveckes Abgang ist der „Spiegel“-Auftritt

Saeveckes Karriere ist blitzsauber und läuft störungsfrei – bis zum Oktober 1962. Er ist inzwischen stellvertretender Leiter der Sicherungsgruppe Bonn des Bundeskriminalamtes. Weil sein Vorgesetzter im Ausland ist, kommt ihm die Führungsrolle bei der polizeilichen Besetzung der „Spiegel“-Redaktion in Hamburg zu. Damit wird das beendet, was Wochen zuvor als „Spiegel“-Beitrag unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ begann und die katastrophalen Ergebnisse der NATO-Übung „Fallex 62“ für eine alles andere als kriegstaugliche Bundeswehr beschreibt. Der Kopf der deutschen Regierung ist für diese Übung nach Mayen in die neugebaute General-Delius-Kaserne umgezogen. Verantwortlich hier ist das Bundesinnenministerium, namentlich Abteilungsleiter Walter Bargatzky und der ehemalige Wehrmachtsgeneral Theodor Busse – ein Tandem, dass auch für die Planung des Regierungsbunker im Ahrtal verantwortlich zeichnet.

Doch die „Spiegel“-Affäre hat Folgen für Theo Saevecke. Denn so wie Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß oder Staatssekretär Volkmar Hopf in die Schusslinie geraten, steht auch Saevecke im Kreuzfeuer der Kritik. Der Alptraum, sein Name geistere durch die Medien, wird wahr. Und das im Zusammenhang mit einer Affäre, die Bundeskanzler Adenauer als „Abgrund von Landesverrat“ zu einer staatstragenden Angelegenheit macht. Schnell greift der Journalismus Saeveckes NS-Vergangenheit auf – mit internationaler Ausstrahlungskraft, denn auch in Italien weiß man nun, was aus dem „Mörder von Mailand“ wurde. Erneut wird dort die Verhaftung und Verurteilung gefordert. Innerhalb des Bundeskriminalamtes wird Saevecke Anfang 1963 von Bonn nach Wiesbaden (Abteilung „Nachrichtensammlung“; 15.2.1963; Quelle Bundesarchiv Koblenz) versetzt.

Doch bereits drei Wochen später ist er wieder in Bonn ein großes Thema. Am 6. März 1963 dreht sich in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages alles um den Kriminalisten und sein Treiben bis 1945. Zwar stellt sich Bundesinnenminister Hermann Höcherl in der Bundestagsdebatte vor Saevecke, an neuen Untersuchungen kommt er aber nicht vorbei.

Die DDR-Spionageelite im Regierungsbunker (West): Gotthold Schramm im Gespräch mit Gabriele Gast (ehem. Regierungsdirektorin im Bundesnachrichtendienst). Schramm war in der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR-Stastssicherheit zuständig für Geheimdienstbearbeitung und Spionageabwehr – und kennt den „Fall S.“ aus dieser Zeit.

Die DDR-Spionageelite im Regierungsbunker (West): Gotthold Schramm im Gespräch mit Gabriele Gast (ehem. Regierungsdirektorin im Bundesnachrichtendienst). Schramm war in der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR-Stastssicherheit zuständig für Geheimdienstbearbeitung und Spionageabwehr – und kennt den „Fall S.“ aus dieser Zeit.

Der Druck auf Saevecke wird größer, als ihm zugetragen wird, dass geheimdienstliche Ermittlungen zu seiner NS-Vergangenheit angelaufen sind. Zunächst weiß er nicht, wer Initiator ist. Seine CIA-Verbindung soll bei der Beantwortung helfen. Der US-Dienst nennt die ostdeutsche Staatssicherheit, Hauptverwaltung Aufklärung. „Die Federführung lag bei der Abteilung X, „Aktive Maßnahmen““, erinnert sich Gotthold Schramm, in der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR-Stastssicherheit zuständig für Geheimdienstbearbeitung und Spionageabwehr. „Wir stießen 1960 in Polen auf Dokumente über Saevecke. Soweit ich feststellen konnte, wurde das allerdings nicht vom Ministerium für Staatssicherheit direkt bearbeitet.“ Das heißt: „Es erfolgte keine direkte Personenbearbeitung und kein Einsatz operativer Mittel und Methoden. Auf die Anschleusung eines Agenten, den Einsatz von Technik, Ermittlungen bzw. Beobachtungen in der Bundesrepublik wurde verzichtet. In einem Dossier wurde vielmehr alles zur Person gesammelt.“ Wie die CIA von diesem internen Stasi-Vorgang, der ausschließlich in der Ostberliner Zentrale bearbeitet wurde, so schnell Wind bekommen konnte, bleibt eines der vielen Rätsel jener Jahre. Und auch die Untersuchungen der Stasi werfen die Frage auf, mit welchem Ziel sie eingeleitet wurden. Allein: Der erfahrene Kriminalpolizist Saevecke war nun – wissentlich – selbst Ziel zahlreicher Ermittlungen – im In- und Ausland, durch Freund und Feind.

Aus dem Verkehr gezogen. 1964 wechselt Theo Saevecke aus der BKA-Zentrale Wiesbaden ins beschauliche Marienthal. Seinen neuen Einsatz koordiniert der Sicherheitschef aus der Baracke der Bauleitung, in dessen zentralen Mittelteil das BKA seine Räume einrichtet.

Aus dem Verkehr gezogen. 1964 wechselt Theo Saevecke aus der BKA-Zentrale Wiesbaden ins beschauliche Marienthal. Seinen neuen Einsatz koordiniert der Sicherheitschef aus der Baracke der Bauleitung, in dessen zentralen Mittelteil das BKA seine Räume einrichtet.

Im Bundesinnenministerium enden die Untersuchungen zum „Fall Saevecke“ am 24. April 1963. Er wird dienstenthoben. Doch, so geben 2002 freigegebene CIA-Unterlagen her, kann er sich mit dem Bundeskriminalamt auf eine außergewöhnliche Regelung verständigen: Saevecke gibt den Kampf in der vordersten Linie auf und wird auf einen unauffälligen Posten abversetzt. Hier soll er die letzten Jahre bis zu seiner Pensionierung (1971) weitab öffentlicher Aufmerksamkeit verbringen.

Mit dieser Regelung wird die Personalakte Savecke im BKA geschlossen. Bisher war – auch Fachleuten – nicht bekannt, wie sich der Lebenslauf zwischen 1964 und 1971 gestaltete.

Doch auch dieser – letzte berufliche – Abschnitt ist filmreif. Denn Saevecke verschwindet hinter dem Bauzaun von Deutschlands Staatsgeheimnis Nummer 1, dem Regierungsbunker im Ahrtal. Hier ist er verantwortlich für die Sicherheitsüberprüfungen der Bauarbeiter und künftiger Bunkermitarbeiter, die Abschirmung dieser Baustelle gegenüber feindlicher Spionage, die Aufklärung von Straftaten, die als Sicherheitsrisiko des Staatsgeheimnisses eingestuft werden.

Einer, den Saevecke eidesstattlich zur Geheimhaltung und damit zur absoluten Verschwiegenheit über seinen Arbeitsplatz verpflichtet, ist Peter Bläser aus Kesseling (anschließend über 30 Jahre technischer Mitarbeiter im Regierungsbunker), der den „Sicherheitschef“ als „zurückhaltenden und eher unauffälligen Beamten“ beschreibt. Dass der mit einer filmreifen Biografie ausgestattet ist, wer es überhaupt ist – das weiß damals kaum jemand auf dem Bundes-Bauplatz.

Braunes Führungsduo im Bunker-Referat Sicherheit

Eines von drei unter über 3.000 Fotos der Baudokumentation, auf dem ein BKA-Sicherheitsbeamter zu sehen ist (rechts): Theo Saevecke galt als sehr fotoscheu, und auch der für die Sicherheit der Bilddokumentation zuständige Georg Mody ging der fotografischen Arbeit von Herbert Hennig aus dem Weg – nicht immer erfolgreich, wie das Bild belegt. Zu sehen ist das Zugangsbauwerk Ost/Ost bei Ahrweiler, heute Dokumentationsstätte.

Eines von drei unter über 3.000 Fotos der Baudokumentation, auf dem ein BKA-Sicherheitsbeamter zu sehen ist (rechts): Theo Saevecke galt als sehr fotoscheu, und auch der für die Sicherheit der Bilddokumentation zuständige Georg Mody ging der fotografischen Arbeit von Herbert Hennig aus dem Weg – nicht immer erfolgreich, wie das Bild belegt. Zu sehen ist das Zugangsbauwerk Ost/Ost bei Ahrweiler, heute Dokumentationsstätte.

Saevecke agiert aus einem Zimmer der doppelgeschossigen Baracke der Bauleitung, zentral gelegen zwischen der Bundesbaudirektion und der privaten „Deutsche Societät Beratender Ingenieure“ (beide Teile bilden die Bauleitung). Damit sitzt der Bundeskriminalist im Zentrum bundesdeutscher Bunkerbauerei. Immer an seiner Seite: Georg Mody – nicht minder durch die Jahre des Nationalsozialismus vorbelastet und ebenfalls aus dem Bundeskriminalamt (Wiesbaden) nach Marienthal „abberufen“. „Ursprünglich hatte sich Mody für den Kolonialdienst beworben und als besondere Fähigkeit angegeben, dass er als Straßenbahnfahrer ausgebildet sei“, fand BKA-Kenner Dieter Schenk heraus. Doch dann machte Mody, seit 1937 NSDAP-Mitglied, als Angehöriger der Geheimen Feldpolizei Karriere, zunächst in Norwegen, ab 1944 als Chef der Gruppe GFP 13 in Russland. „Es ist schwer vorstellbar, dass Mody nicht in die Verbrechen der Geheimen Feldpolizei involviert gewesen sein soll, nach allem, was bekannt ist. Trotzdem bewies die Staatsanwaltschaft in den sechziger Jahren keinen tatsächlichen Willen zur Aufklärung“, wägt Schenk die Kriegszeit und ihre juristischen Folgen in der jungen Bundesrepublik ab.

Aktuelle Aktenlage im Bundesarchiv gibt bisher unbekannte Einblicke

Tatsächlich geben die Akten des Bundesinnenministeriums im Bundesarchiv, Koblenz, eindeutig her, das man im Umgang mit vorbelasteten Mitarbeitern im Bundeskriminalamt „einen tatsächlichen Willen zur Aufklärung“ durch den Schutz vor öffentlicher Diskussion ersetzte – am effektivsten über Anonymität. Doch die wird mit Zeitungsartikeln erstmals 1959 aufgehoben. In der Folge geht dem Innenministerium ein internes Schreiben aus dem Bundeskanzleramt mit eindeutigem Inhalt zu: „Das Bundeskanzleramt sieht es als notwendig an, die Diffamierungskampagne hinsichtlich der Verwendung von eigentlichen SS-Führern in der Kripo entgegenzutreten.“ (BArch, Koblenz, B 106, 111 / 110). So steht weniger die Personalpolitik in der Kritik, als vielmehr ihre öffentliche Diskussion. Doch die hatte – ausgerechnet als Kollege von BKA-Chef Dickopf auf Landesebene – der für Polizeipersonalfragen in Nordrhein-Westfalen verantwortliche Ministerialrat Dr. Sporrer über die Medien angestoßen (BArch, Koblenz, B 106, 111 / 110). Das Bundesinnenministerium entwirft Gegenmaßnahmen und erstellt einen ganzen Katalog von guten Argumenten, darunter „kalt geschriebene“, also am Schreibtisch entworfene Interviews, die nie stattgefunden haben. In ihnen wird plausibel erklärt, warum man auf SS-, SD- und Gestapo-Vorbelastete im Bundeskriminalamt nicht verzichten konnte. Der Mangel an geeigneten Fachkräften wird bemüht und die späte Gründung des BKA. Die guten Leute seien alle längst in Lohn und Brot – so bei den zuvor gebildeten Landeskriminalämtern. Und außerdem handele es sich bei den vermeintlich schwer NS-Belasteten um sogenannte „Dienstgradangleichungen“ – also die kollektive Übernahme von Polizisten in die SS. Damit wird sichtbar heruntergespielt.

Doch hinter den Kulissen legt man im Bundeskriminalamt zu den „schwierigsten Fällen“ im Personalapparat neue Akten an. Die enthalten u.a. Lebensläufe, die allerdings markante Lücken aufweisen. Fünf Namen rücken in den Mittelpunkt: Konrad Zimmer, Gustav Hein, Heinrich Erlen, Otto Scharbatke – und Theo Saevecke.

Am 17. Januar 1964 legt Bundesinnenminister Hermann Höcherl fest: „Die Beamten, die der Gestapo angehört und dort Dienst getan haben, sollen an andere Dienststellen, bei denen ihnen keine Vollzugsaufgaben obliegen, verteilt werden.“ (BArch, B 106, 111 / 110). Einer wird gar ins Bundesarchiv versetzt.

Für Theo Saevecke geht es nach Marienthal. Dort wird an der Fertigstellung des Abschnitts Ost als erstem Teilbereich des gigantischen, über 17 Kilometer langen Bunkersystems gearbeitet. Georg Mody ist bereits da und u.a. für die Überwachung der Fotodokumentation (durch den stellvertretenden Bauleiter Herbert Hennig) zuständig. Geheime Feldpolizei und Gestapo a.D. bilden nun die Rumpfmannschaft bei der Wahrung der Sicherheitsinteressen um den Regierungsbunker.

Seite an Seite mit dem Bundeskanzler und seinen Ministern

Schwachstelle Mannlochdeckel in den Außenbauwerken der Zu- und Abluft. Dieser Teil ist zwar als Durchgang nur sehr eng und liegt am Ende der Bauzeit tief unter der Erde, doch Saevecke moniert als Sicherheitschef, dass die Deckel auch von außen zu öffnen seien. Eine Schwachstelle für den Bunker, die auf seine Initiative beseitigt wird.

Schwachstelle Mannlochdeckel in den Außenbauwerken der Zu- und Abluft. Dieser Teil ist zwar als Durchgang nur sehr eng und liegt am Ende der Bauzeit tief unter der Erde, doch Saevecke moniert als Sicherheitschef, dass die Deckel auch von außen zu öffnen seien. Eine Schwachstelle für den Bunker, die auf seine Initiative beseitigt wird.

An der Seite von Dienstellenleiter Ernst Walker leitet Theo Saevecke die Geschicke im Schattenreich der Bundesregierung. Er nimmt an allen relevanten Sitzungen der Dienststelle teil, die dem Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz im Bundesinnenministerium angegliedert ist. Zu seinen Aufgaben zählen auch die Vorbereitungen, Durchführung und Auswertung (Sicherheit) der NATO-Übungen Fallex, die ab Oktober 1966 im Bunker stattfinden. Damit marschiert die einstige NS-Größe auf einem Flur mit Bundeskanzler Ludwig Erhard, Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, Bundesinnenminister Paul Lücke oder dem stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden und späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt. Berührungsängste gibt es hier, in der streng von der Außenwelt abgeschirmten Bonner Unterwelt, offensichtlich nicht. Dabei haben Saeveckes Erkenntnisse und Hinweise zu Mängeln und Verbesserungen der Sicherheit im Regierungsbunker durchaus Auswirkungen auf das künftige Erscheinungsbild der Anlage. Und auch auf den Ablauf der künftigen Stabsübungen Fallex und Wintex, an denen alle zwei Jahre Regierungsvertreter teilnehmen.

Gesicherte Mannlochdeckel, die sich nach Saeveckes Hinweis nur noch von innen öffnen lassen. Politisch sicher nicht im Sinne des ehemaligen und noch immer überzeugten Nazis, werden „seine“ Deckel rot angemalt.

Gesicherte Mannlochdeckel, die sich nach Saeveckes Hinweis nur noch von innen öffnen lassen. Politisch sicher nicht im Sinne des ehemaligen und noch immer überzeugten Nazis, werden „seine“ Deckel rot angemalt.

Bis zu seinem Ausscheiden 1971 marschiert Saevecke zu drei Übungen mit im Bunker ein, die bei der NATO die höchste Geheimhaltung genießen. Sieben Jahre ist er Sicherheitsbeauftragter und erarbeitet sich durchaus den Respekt seiner Mitstreiter. So lobt ihn die Führung der für die Bunkersicherheit eingesetzten Feldjäger der Bundeswehr als „besonnen, klar und kooperativ“. Einer der letzten Vorgänge, die in Saeveckes Büro eingehen, widmet sich „dem verdeckten Kampf“ im Bunkerareal. Der „Stab für Studien und Übungen der Bundeswehr“ stellt, beauftragt durch das Bundesinnenministerium, eine „neue Sicherheitslage in der BRD“ fest. Der Feind im Osten rückt etwas in den Hintergrund, als Strategien gegen Demonstrationen und versuchte Sabotage am Bunker entworfen werden. Damit ist Oberregierungskriminalrat Saevecke zu Dienstende wieder dort, wo er 1944 im Kampf gegen Partisanen und Anschläge – weit hinter der Front – als SS-Hauptsturmführer schon einmal war. Eine Hundertschaft Polizei in Reserve wird ab sofort für die NATO-Übungen eingeplant, die Aufmärsche und Störungen unterbinden soll – einer der letzten Hinweise Saeveckes, der mit seiner Pensionierung ins Norddeutsche umzieht. Unauffällig und unbekannt taucht er in ländlicher Umgebung unter.

Fall Saevecke zu den Akten gelegt?

Baustelle Regierungsbunker (im Bild der Hauptzugang Bauwerk 101 im Winter 1963/64 mit dem Sicherheitshinweis). Im Schutze des Staatsgeheimnisses entwickelte gerade das Referat Sicherheit ein Eigenleben mit Ausstrahlungskraft auf die gesamte Dienststelle.

Baustelle Regierungsbunker (im Bild der Hauptzugang Bauwerk 101 im Winter 1963/64 mit dem Sicherheitshinweis). Im Schutze des Staatsgeheimnisses entwickelte gerade das Referat Sicherheit ein Eigenleben mit Ausstrahlungskraft auf die gesamte Dienststelle.

So verdeckt die „Operation Saevecke“ in den letzten sieben Berufsjahren im Regierungsbunker verlief, so schweigsam zeigte sich danach die Sicherheitsmannschaft der „Dienstelle Marienthal“ mit Blick auf ihren ersten Chef. „Er war ein zuverlässiger Kollege, ruhig, gründlich in der Sache – und völlig unbekannt“, wird einer antworten, der angesprochen auf die Person Saevecke nichts zu dessen Vergangenheit sagen kann. Den kriminalistischen Spürsinn setzte man ganz im Sinne der Dienstelle ein, und nicht zum Nachteil auf deren Vorgesetzte und ihre Vita. Das Referat galt über Jahrzehnte als die heimliche Macht im Bunker, denn auch Saeveckes Nachfolger konnten vermeintlich mehr, als nur auf das Staatsgeheimnis aufzupassen. Referatsleiter Hagen Ulrich von Herzberg schielte über seinen Posten hinaus und wollte die gesamte Dienststelle führen, half dabei sogar sachte nach – was einige Unruhe in den Alltag des Regierungsbunkers brachte. Der gleiche von Herzberg war es dann auch, der einem neugierigen Journalisten über den Bunkervorplatz die mahnenden Worte hinterher brüllte, er solle „die Interessen des Staates wahren“ und aufhören mit seiner Neugierde. Darüber muss Jacques Berndorf heute noch lächeln, denn ihm galt diese Warnung.

Sicherheitsrisiko Berndorf im Bunker (im Interview mit dem Saarländischen Rundfunk). Der heute erfolgreiche Krimi-Autor Jacques Berndorf zog das Staatsgeheimnis Regierungsbunker als Journalist unter seinem bürgerlichen Namen Michael Preute ins Licht der Öffentlichkeit – sehr zum Unwillen des Referates Sicherheit der hausverwaltenden Dienststelle Marienthal.

Sicherheitsrisiko Berndorf im Bunker (im Interview mit dem Saarländischen Rundfunk). Der heute erfolgreiche Krimi-Autor Jacques Berndorf zog das Staatsgeheimnis Regierungsbunker als Journalist unter seinem bürgerlichen Namen Michael Preute ins Licht der Öffentlichkeit – sehr zum Unwillen des Referates Sicherheit der hausverwaltenden Dienststelle Marienthal.

„Bei meinen Recherchen zum Bunker Anfang der 80er Jahre“, erinnert sich Jacques Berndorf, der damals unter seinem bürgerlichen Namen Michael Preute als Journalist das Unterreich an der Ahr erstmals einer gründlichen öffentlichen Prüfung unterzog und sein Wissen in einen seitenlangen „Spiegel“-Artikel sowie zwei Bücher einfließen lässt, „war ich von der Kaltschnäuzigkeit der Bundesregierung überrascht und von ihr schockiert, die ihren Bunker auf dem Grund und Boden eines ehemaligen Konzentrationslagers baute. Das hat mich erschüttert, weil dieser Skandal in der damals jungen Geschichte der Bundesrepublik, im Handeln der Bundesregierung für ihren Bunker an diesem Ort, einfach keine Rolle spielte. Man hat es einfach verschwiegen. Details dieses Staatsgeheimnisses – wie die Mitarbeit eines NS-Mannes Saevecke – kannte damals niemand. Meine Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv hätte das ändern können, doch mehr als freundliche Gespräche mit zuständigen Mitarbeitern, eine Tasse Kaffee, kam dabei nicht raus. Keine stichhaltigen Informationen, geschweige Akteneinsicht.“ So kann der erfolgreiche Krimi-Autor aus der Eifel heute auch nur den Kopf schütteln, geht es um den Regierungsbunker und seine Protagonisten wie Saevecke, Mody oder auch beteiligte Baufirmen wie die federführende HUTA-Hegerfeld AG, deren Vergangenheit den Bau von Krematorien im Konzentrationslager Auschwitz einschloss. „Ein Mann, der Hunderte Juden in Konzentrationslager und damit in den Gas-Tod schickte, setzt im Namen der Bundesregierung Sicherheitsbelange an einem Ort durch, an dem keine zwei Jahrzehnte zuvor KZ-Häftlinge gequält wurden. Ohne Worte! Aber offensichtlich hat es die, die das wussten, nicht interessiert oder sie haben gehofft, es kommt nie raus.“

Tatsächlich werden alle Verfahren der deutschen Justiz gegen Saevecke eingestellt. Um so überraschender leitet die italienische Staatsanwaltschaft 1997 nach dem Fund eines belastenden Aktenbestandes erneut Untersuchungen gegen den inzwischen 88Jährigen ein. Im Sommer 1999 wird er wegen der Erschießungen in Mailand in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, doch weder an italienische Behörden überstellt noch tritt er die Haftstrafe an. Theo Saevecke stirbt als freier Mann im Jahr 2000.

Die Mannschaft der Dokumentationsstätte Regierungsbunker hat keine einfache Aufgabe übernommen und erklärt heute ein Staatsgeheimnis mit seiner technischen Einrichtung genauso wie die politischen Zusammenhänge der 60er, 70er und 80er Jahre – zu denen auch immer wieder neue Kapitel wie das um Theo Saevecke zählen. Bei der Aufarbeitung kann die Dokumentationsstätte auf das Potential in den eigenen Reihen zurückgreifen und arbeitet national und sogar international mit Archiven und Zeitzeugen zusammen.

Die Mannschaft der Dokumentationsstätte Regierungsbunker hat keine einfache Aufgabe übernommen und erklärt heute ein Staatsgeheimnis mit seiner technischen Einrichtung genauso wie die politischen Zusammenhänge der 60er, 70er und 80er Jahre – zu denen auch immer wieder neue Kapitel wie das um Theo Saevecke zählen. Bei der Aufarbeitung kann die Dokumentationsstätte auf das Potential in den eigenen Reihen zurückgreifen und arbeitet national und sogar international mit Archiven und Zeitzeugen zusammen.

Bei der Planung der „Dokumentationsstätte Regierungsbunker, Bad Neuenahr-Ahrweiler“ legt die Bundesregierung Wert auf eine Aufarbeitung der NS-Jahre, die auch an das Außenlager des KZ Buchenwald in Marienthal und Dernau erinnern. In einer Publikation und auf einer Gedenktafel im Eingangsbereich des Museums wird dieser Teil deutscher Geschichte dokumentiert. Eine Aufarbeitung oder Erwähnung des braunen Kapitels im Regierungsbunker der Bundesrepublik Deutschland ist dagegen bisher ausgeblieben.

Ergänzung zum Beitrag am 9. Dezember 2009:

Selten hat sich ein Beitrag auf der Internetseite http://www.ausweichsitz.de so kritisch mit der Geschichte des Regierungsbunkers und der Rolle des Bundesinnenministeriums als Hausherr auseinander gesetzt, wie der vorliegende um Kriegsverbrecher Theo Saevecke. Und auch wenn das Thema nach fast einjähriger Bearbeitungszeit durch Historiker überprüft wurde, sogar juristisch mit der vorliegenden Aktenlage abgeglichen wurde – für das Echo auf einen solchen Beitrag sind diese „Formalien“ wenig ausschlaggebend, spielen für die persönliche Beurteilung des Lesers nur eine Nebenrolle.

Die Veröffentlichung um die Geschichte des Theo Saevecke hinter dem „Braunen Bretterzaun“ lief parallel: In der größten Tageszeitung von Rheinland-Pfalz, der „Rhein-Zeitung“ in einer gekürzten Fassung und ausführlich unter ausweichsitz.de – mit großem Erfolg, wie die Leserreaktionen anschließend zeigten. Insider meldeten sich genauso wie „normale“ Menschen. Verwunderung über die Karriere-Möglichkeiten eines NS-Verbrechers in der demokratischen Bonner Republik wurde geäußert, resignierende Äußerungen aber auch solche: „Die Geschichte vergisst nicht“. Für die Dokumentationsstätte Regierungsbunker eine weitere Motivation, sich mit dem Regierungsbunker und seiner Vergangenheit intensiv und gründlich auseinander zu setzen.

Ein besonderer Dank der Verfasser geht an die ehemaligen Mitarbeiter, an Insider, die mit ihren Erinnerungen an Theo Saevecke, aber auch mit Fotos, die als wahre Raritäten gelten dürfen, weitergeholfen haben.

Dabei wurde auch deutlich, dass Saevecke in seinem „neuen“ Marienthaler Umfeld als „loyal, pflichtbewusst und humorvoll“ galt – und das nach einer Laufbahn im Bundeskriminalamt, die Abstürze wie den nach der Spiegel-Affäre einschloss, Untersuchungen zu seiner Person in Ost wie in West und auch Debatten im Deutschen Bundestag wie jene am 6. März 1963, in der sich Minister Hermann Höcherl vor Saevecke stellte. An jenem Tag wurde Saevecke öffentlich im höchsten Haus des Staates als „Kriegsverbrecher“ tituliert. Offensichtlich hat es seinem Charakter nicht tiefgreifenden Schaden zugefügt, denn er galt im Regierungsbunker als „stets freundlich und immer lustig“. Nur einem Thema ging er aus dem Weg: Sich als „Nazi“ anreden zu lassen. Über seine Vergangenheit schwieg er. Wie auch über seine Jahre im BKA zwischen 1952 und 1964, seine Rolle als BKA-Organisator bei der Besetzung der Hamburger Spiegel-Redaktion. „Sprach das Thema doch mal jemand an, weil es Vermutungen und Gerüchte gab, lud er den Störenfried in sein Dienstzimmer ein und polterte nicht etwa los, sondern trat an die Reeling heran, wie er sein Fenster nannte, zog an einem Seil eine Flasche Korn aus der darunter liegenden Dachrinne nach oben ins Zimmer und füllte zwei Schnapsgläser. Irgendwann ist ja auch mal alles gut … und Prost“. Theo Saevecke und sein Umgang mit seiner Geschichte, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 allerdings so nicht wegprosten konnte. Der Nachwelt ein sauberes Bild hinterlassen, das war ihm ein Anliegen. In Erfüllung ist dieser Wunsch bislang nicht gegangen.

Die Autoren:

Jörg Diester (verantw.) Journalist; Mitarbeiter in den Dokumentationsstätten Regierungsbunker, Bad Neuenahr-Ahrweiler und Ausweichsitz Nordrhein-Westfalen, Autor „Geheimakte Regierungsbunker – Tagebuch eines Staatsgeheimnisses“

Jacques Berndorf / Michael Preute Schriftsteller (Eifel-Krimis), ehem. Journalist u.a. für „Der Spiegel“, „Stern“ und Buchautor „Vom Bunker der Bundesregierung“ (1984) sowie „Der Bunker – Eine Reise in Bonner Unterwelten“ (1989)

Dieter Schenk (zitiert): 1955-1989 Polizei-Laufbahn, ab 1980 Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt, Autor u.a. „Auf dem rechten Auge blind – die braunen Wurzeln des BKA“

Gotthold Schramm Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit von 1952 bis 1990. Letzter Dienstgrad Oberst. Ab 1954 in der Hauptverwaltung Aufklärung, zuständig für Geheimdienstbearbeitung und Spionageabwehr

Michaela Karle M.A. Mitarbeiterin in der Dokumentationsstätte Regierungsbunker, Bad Neuenahr-Ahrweiler. Studium in Geschichte und Politik in Bonn

http://de.wikipedia.org/wiki/Theo_Saevecke

Theo Saevecke in der Uniform eines SS-Obersturmführers, Datum unbekannt

„Bandenbekämpfung“ in Italien [Bearbeiten]

Ab dem 1. Juli 1943 arbeitete Saevecke beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) im norditalienischen Verona. Am 13. September 1943 übernahm er die Führung des BdS-Außenkommandos Mailand und wurde damit der Chef der dortigen Gestapo. In dieser Funktion überwachte Saevecke persönlich die Verhaftung italienischer Widerstandskämpfer, zudem war er für die Deportation von mindestens 700 italienischen Juden in die Vernichtungslager verantwortlich.[10]

Saevecke wurde als „Henker von Mailand“[11] bezeichnet, nachdem er am 10. August 1944 auf dem Mailänder Piazzale Loreto 15 italienische Geiseln als „Vergeltung“ öffentlich erschießen ließ.[12] Am 8. August 1944 hatte der italienische Widerstand einen Bombenanschlag auf einen deutschen Militärlastwagen verübt, bei dem sechs italienische Zivilisten getötet und zehn verletzt wurden. Der deutsche Fahrer des Lastwagens wurde leicht an der Wange verletzt. Saevecke war an der Auswahl der erschossenen Geiseln beteiligt, nach italienischen Presseberichten trug der Befehl zur Erschießungsaktion seine Unterschrift. Am 17. Juni und erneut am 1. Juli hatte Albert Kesselring als Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Italien die Erschießung von zehn Italienern für jeden getöteten Deutschen angeordnet.

Ebenfalls im August 1944 erschoss ein zehnköpfiges SS-Kommando unter Saeveckes Führung in Corbetta drei Männer, nachdem zuvor in dem Ort ein SS-Mitglied von Widerstandskämpfern getötet worden war.[10] Geständnisse hatten die drei Männer nicht abgelegt. Am folgenden Tag erschienen Saevecke, sein Vorgesetzter Walter Rauff, 20 SS-Männer sowie 100 italienische Kollaborateure erneut in Corbetta. Die 20 km westlich von Mailand gelegene Gemeinde wurde umstellt und die männliche Bevölkerung auf einen Platz beordert. Von den Versammelten wurden fünf Männer ausgesucht und öffentlich erschossen. Die Häuser der Erschossenen wurden niedergebrannt. Saevecke habe sich, so sein Vorgesetzter Wolff im März 1944, „besonders in der Bandenbekämpfung in der Lombardei hervorgetan und bei fast allen Einsätzen in vorderster Linie im Kampf gegen die Partisanen gelegen. Seiner Einsatzfreudigkeit und Entschlusskraft ist es zu danken, dass die Bandenlage in der Lombardei auf ein möglichstes Mindestmaß herabgedrückt worden ist.“[9]

Im April 1945 ließ Saevecke ein in Triest stationiertes SS-Kommando bestrafen.[13] Dieses Kommando soll mit Juden „Tauschhandel“ betrieben haben. Im gleichen Monat wurde Saevecke von alliierten Truppen gefangen genommen.

Internierung und Arbeit für die CIA [Bearbeiten]

Interne, dreiseitige CIA-Notiz zu Theo Saevecke vom 8. Januar 1953. Klammern markieren Stellen, die von der CIA vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht wurden.

CIA Saevecke 8. Januar 1953 Seite 2.jpg

CIA Saevecke 8. Januar 1953 Seite 3.jpg

Theo Saevecke arbeitete spätestens ab 1947 für den amerikanischen Nachrichtendienst CIA; Ende 1951 wurde er beim kurz zuvor gegründeten deutschen Bundeskriminalamt (BKA) eingestellt. Zu Saeveckes Lebensweg wurden am 1. Februar 2002 Unterlagen der CIA freigegeben.[14] Die Ergebnisse einer Aktenauswertung – im Auftrag der US-amerikanischen Regierung von Historikern durchgeführt – wurden 2005 publiziert.[15] Bereits 2001 veröffentlichte Dieter Schenk, der zuvor als Kriminalrat im BKA gearbeitet hatte, eine Untersuchung zur Gründungsgeschichte des BKA.[16] Schenk kam zu dem Ergebnis, dass im Jahr 1959 von 47 leitenden BKA-Beamten 45 eine nationalsozialistische Vergangenheit hatten. Ungefähr die Hälfte, darunter auch Saevecke, seien als NS-Verbrecher im kriminologischen Sinne zu betrachten.

In Verhören nach seiner Gefangennahme gab Saevecke seine Beteiligung an den Erschiessungen in Mailand und Corbetta zu, verschwieg jedoch seine Rolle bei der Tötung und Deportation von Juden. Saevecke wurde im Lager Dachau interniert. Anfang Oktober 1947 wurde Saevecke aus amerikanischer in britische Obhut überstellt, da von britischer Seite eine Anklage wegen der in Italien verübten Morde vorbereitet wurde. Im November 1947 erklärte die britische Behörde, es bestünde kein Interesse an einer Anklageerhebung und übergaben Saevecke wieder den Amerikanern. Saevecke sei nicht Mitglied einer verbrecherischen Organisation gewesen, so die britischen Behörden. Zu diesem Zeitpunkt war die SS im Nürnberger Prozess zur verbrecherischen Organisation erklärt worden; den Briten war die SS-Mitgliedschaft Saeveckes aus Vernehmungen im Juni 1945 bekannt. Saevecke gab an, er sei die ganze Zeit des Krieges einfacher Polizeibeamter in Berlin gewesen. Die mit der Auswertung der CIA-Akten befasste Historikergruppe spricht von „klarer Schönfärberei“ und kommt zu dem Schluss, dass Saevecke bereits zu diesem Zeitpunkt unter dem Schutz amerikanischer Nachrichtendienste gestanden haben muss.[17] Ein interner Bericht der CIA vom 24. Oktober 1950 lässt erkennen, dass der CIA auch Saeveckes Beteiligung an der Verfolgung der Juden in Tunesien bekannt war.

Im April 1948 wurde Saevecke aus der Internierung in Dachau entlassen. In der Entnazifizierung wurde am 25. August 1950 vom Spruchausschuss in Berlin „mit Rücksicht auf dreijährige Internierung eine Sühnezeit von 18 Monaten verhängt“.[18] Im beginnenden Kalten Krieg wurde Saevecke beim Berliner CIA-Stützpunkt unter dem Decknamen „Cabanjo“ eingestellt. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Nationalsozialisten war Saevecke offenbar eine wertvolle nachrichtendienstliche Quelle und verfügte zudem bereits über einschlägige praktische Erfahrungen. Seine politischen Ansichten verschwieg Saevecke der CIA nicht: Saevecke sehne sich nach den Tagen zurück, in denen die NSDAP an der Macht war, so einer seiner Führungsoffiziere bei der CIA an Richard Helms; er sei der Ansicht, dass die Grundsätze des Nationalsozialismus richtig gewesen seien.[19] Einem CIA-Vermerk vom Januar 1953 zufolge stand Saevecke zu seinem Vorgehen gegen die italienischen Partisanen. Für ihn seien die Partisanen Kommunisten gewesen, und die alliierte Unterstützung der Partisanen sei beklagenswert töricht gewesen. Es sei wenig sinnvoll, mit Saevecke hierüber zu streiten, da die Geschichte möglicherweise beweisen würde, dass er recht gehabt habe. Generell sei Nationalsozialismus ein Thema, das man Saevecke gegenüber besser vermeide.[20]

Kriminalrat beim Bundeskriminalamt [Bearbeiten]

Noch im August 1951 gingen die CIA und Saevecke gleichermaßen davon aus, dass eine Rückkehr Saeveckes in den westdeutschen Polizeidienst unmöglich sei.[21] Wie und wann genau Saeveckes Beschäftigung beim Bundeskriminalamt zustande kam, steht nicht eindeutig fest: Nach den CIA-Unterlagen arbeitete Saevecke ab 1952 oder 1953 als „freier Mitarbeiter“ für das BKA. In diesen Jahren habe ein System „freier Mitarbeiter“ bestanden, mit denen belastete Personen – darunter eine beträchtliche Anzahl ehemals für die Gestapo Tätiger – von der westdeutschen Regierung beschäftigt wurden. Das System „freier Mitarbeiter“ sei geschaffen worden, um Regelungen des Beamtenrechtes zu umgehen. Nach anderen Angaben arbeitete Saevecke ab 15. Dezember 1951 für das BKA.[22] An Saeveckes Einstellung sei fast die gesamte Spitze des Bundesinnenministeriums beteiligt gewesen, darunter der Minister Gerhard Schröder (CDU) und der Staatssekretär Hans Ritter von Lex. Zunächst im Ermittlungsdienst beschäftigt, wurde Saevecke im August 1952 zum Kriminalkommissar, 1956[23] zum Kriminalrat befördert und zum Leiter des Referats Hoch- und Landesverrat bestellt.

1954 wurde in Italien Saeveckes Verhaftung wegen Kriegsverbrechen gefordert.[24] Das Bundesinnenministerium suspendierte Saevecke und leitete ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein. Die CIA gab die entlastenden britischen Untersuchungen von 1947 an das Bundesinnenministerium weiter. Saevecke wurde dabei aufgetragen, er solle die Unterstützung durch die CIA den deutschen Behörden gegenüber nicht offenbaren. Der amerikanische Geheimdienst befürchtete, es könne auf deutscher Seite erkannt werden, dass die USA einen Spion im deutschen Sicherheitssystem unterhalte. Der Personalreferent des Innenministeriums kam vor Ort in Italien zu dem Ergebnis, die Zeugenaussagen seien widersprüchlich, beruhten weitgehend auf Hörensagen und es sei nicht mit ausreichender Sicherheit nachzuweisen, dass Saevecke an Übergriffen auf Juden und politische Gefangene beteiligt gewesen sei.[25] 1955 wurde das Disziplinarverfahren nach neun Monaten aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Im Oktober 1962 war Saevecke, mittlerweile stellvertretender Leiter der Sicherungsgruppe Bonn des BKA, in führender Funktion am Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen das Nachrichtenmagazin Der Spiegel beteiligt.[26] Saevecke leitete – in Vertretung seines im Ausland weilenden Chefs Ernst Brückner – seit dem 27. Oktober 1962 die Aktion, die sich zur „Spiegel-Affäre“ ausweitete. Dabei war er an der Verhaftung des stellvertretenden Chefredakteurs Conrad Ahlers in Spanien beteiligt. Ahlers wurde unter Einschaltung von Interpol verhaftet, obwohl Interpol beim Vorwurf des Landesverrates nicht tätig werden durfte. Nach Angaben des Spiegels setzte sich Saevecke später dafür ein, „den inhaftierten SPIEGEL-Journalisten das ungewohnte Gefängnisleben zu erleichtern.“[27] Seinem Vorgesetzten Ernst Brückner machte Saevecke später schwere Vorwürfe: „Für dessen [Brückners] Verhalten bei der Einleitung der Spiegel-Sache ich wenigstens im Hinblick auf den Grund der Kampagne zwei Jahre büßen musste und der nicht den Mut fand zu sagen, ich bin der Leiter der Dienststelle, ich habe das Feuer mit geschürt, ich habe bis zur Nacht die entscheidenden Gespräche geführt und Saevecke war nicht einmal mein Stellvertreter. Mut kann man nicht erlernen, und die Schüsse gegen mich verdeckten gut die Spur“,[28] so Saevecke später in einem Schreiben an den neuen BKA-Chef Paul Dickopf.

Saeveckes Rolle in der „Spiegel-Affäre“ führte zu Presseberichten, die seine nationalsozialistische Vergangenheit thematisierten. Im Februar 1963 forderte der Mailänder Stadtrat in einem einstimmig verabschiedeten Telegramm an Ministerpräsident Fanfani einen Prozess gegen Saevecke.[29] Am 6. März 1963 beschäftigte sich der Deutsche Bundestag mit Saevecke.[30] In einer Fragestunde bezeichnete Bundesinnenminister Hermann Höcherl Saevecke als „befähigten Beamten“, wertete die „SS-Zugehörigkeit von Saevecke als unfreiwillige Dienstgradangleichung“ und sah den BKA-Beamten „rehabilitiert“, so habe die Spruchkammer in der Entnazifizierung 1950 entschieden. Nachdem ein Bonner Ministerialbeamter erneut in Italien Zeugen gehört hatte, leitete Innenminister Höcherl am 24. April 1963 ein zweites Disziplinarverfahren ein.[29] Saevecke ließ über einen Beamten der Sicherungsgruppe in Bonn bei der CIA anfragen, wer nach seiner nationalsozialistischen Vergangenheit recherchiere.[31] Die CIA begann mit Nachforschungen, war sich aber unsicher, ob sie diese Informationen an Saevecke weiterleiten solle. Gegenüber den 1950er Jahren hatte sich die Haltung der CIA gegenüber Personen mit nationalsozialistischer Vergangenheit gewandelt: Dieser Personenkreis wurde für erpressbar gehalten und als potentielle Doppelagenten gesehen, so wie der 1961 enttarnte KGB-Agent Heinz Felfe. Tatsächlich hatte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR Nachforschungen zu Saevecke anstellen lassen.[32] Die Abteilung I der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) hatte ab 1961 – allerdings mit geringem Erfolg – zu Saeveckes Rolle in Polen ermittelt. Anhand der HVA-Unterlagen kann nachgewiesen werden, dass Saevecke beim deutschen Angriff auf Polen zur Einsatzgruppe VI gehörte. Die HVA stellte ihre Nachforschungen offenbar 1976 ein.

1964 wurde das zweite Disziplinarverfahren gegen Saevecke aus Mangel an Beweisen eingestellt. Nach den CIA-Unterlagen gab es eine Vereinbarung zwischen Saevecke und dem BKA, wonach er bis zu seiner Pensionierung 1971 auf einem weniger exponierten Dienstposten eingesetzt werden solle: 2009 wurde bekannt, dass Saevecke von 1964 bis 1971 als Sicherheitschef beim Bau des Regierungsbunkers bei Ahrweiler beschäftigt war. Hier war er unter anderem zuständig für Sicherheitsüberprüfungen von Bauarbeitern und Bunkermitarbeitern sowie die Abschirmung der Baustelle gegenüber Spionage. Zudem war Saevecke an der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von NATO-Übungen im Bunker beteiligt; beispielsweise im Oktober 1966 an der Stabsrahmenübung Fallex 66, bei der die Zusammenarbeit zwischen NATO-Organen und nationalen Entscheidungsträgern erprobt werden sollte.[33]

Ermittlungen der westdeutschen Justizbehörden führten nicht zu einer Anklage: In Berlin wurde gegen Saevecke im Verfahren gegen die Führungsebene des Reichssicherheitshauptamtes ermittelt.[34] Die Ermittlungen gegen Saevecke wurden am 9. Februar 1967 eingestellt: Es könne nicht widerlegt werden, dass Saevecke nicht zum Referat V A2 für vorbeugende Verbrechensbekämpfung gehört habe. Zwei weitere Ermittlungsverfahren – die Geiselerschießungen in Mailand betreffend – wurden 1971 und im Mai 1989 eingestellt.[35] Einem Ermittlungsvermerk der Polizei vom August 1960 zufolge hatte Saevecke erklärt, dass er für eine Aussage eine Genehmigung seiner damaligen Behörde benötige. Niemand könne ihn von seiner Schweigepflicht entbinden, da diese Behörde nicht mehr existiere.[36]

Verurteilung in Italien [Bearbeiten]

In Italien wurden im Mai 1994 – auf der Suche nach Unterlagen zu Erich Priebke – auch Akten zu Ermittlungen gegen Saevecke aus der Zeit vor 1960 wiedergefunden.[37] Ein zum Aktenfund im – so Presseberichte – „Schrank der Schande“ eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss blieb sich über die Hintergründe uneinig. Nach einer internen Untersuchung der italienischen Militärjustizbehörden hatte der Chef dieser Behörde im Januar 1960 die „einstweilige Archivierung“ der Akten angeordnet. Betroffen waren Unterlagen über 2.274 Verbrechen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die nach den gesetzlichen Vorschriften an die zuständigen Staatsanwaltschaften weiterzuleiten waren. Mitte der 1960er Jahre wurden etwa 1.300 Fälle abgearbeitet. 695 Akten verblieben im Sitz der Militär-Generalstaatsanwaltschaft in Rom in einem Schrank, der – mit der Schranktür zur Wand – zusätzlich mit einem Eisengitter abgesichert wurde.

Nach dem Aktenfund wurden im November 1997 in Italien Vorermittlungen gegen Saevecke eingeleitet, der zu dieser Zeit als Pensionär in Bad Rothenfelde bei Osnabrück lebte.[38] Einer Aufforderung der italienischen Behörden, sich zur Verfügung des zuständigen Turiner Militärgerichts zu halten, kam Saeveke nicht nach. Eine Auslieferung Saeveckes an Italien unterblieb, da deutsche Staatsangehörige gemäß dem Grundgesetz nicht ausgeliefert werden dürfen. Am 9. Juni 1999 wurde Saevecke vom Turiner Militärgericht wegen der Geiselerschießungen im August 1944 in absentia zu lebenslanger Haft verurteilt. Saevecke starb 2000.

Source: http://de.wikipedia.org/wiki/Theo_Saevecke

18.05.2011 16:25

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heise online

BKA-Chef drängt weiter auf Vorratsdatenspeicherung Update

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Mit einem eindringlichen Appell, die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen, begann und endete der Vortrag des BKA-Chefs Jörg Ziercke über „Aktuelle Bedrohungslagen in den neuen Medien“ auf der Jahrestagung des Verbandes für Sicherheitstechnik in Leipzig. Nach Angaben von Ziercke ermittelte das Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr in 5200 Verdachtsfällen eine IP-Adresse, bekam aber in 87 Prozent der Fälle keine Auskunft darüber, wer hinter der Adresse steckte. [Update: Auf diese Zahlen war der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung in einem Bericht (PDF-Datei) kürzlich kritisch eingegangen.]

„Wir brauchen die Verbindungsdaten bei den Providern. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade dazu seitenlange Ausführungen gemacht, was die Provider zu tun haben und was nicht. Wir müssen drauf vertrauen, dass sie die Daten geschützt speichern und die 99,9 Prozent wieder löschen, die wir nicht brauchen“, sagte Ziercke. Die Daten zu haben sei nicht illegal und bedeuteten keine „Überwachung“ à la „Big Brother“. Die Verbindungsdaten seien wichtig, um ein Lagebild gewinnen und reagieren zu können. „Auch ich möchte nicht in einem Staat leben, der schon von den Kindern die DNA nimmt. Das ist eine absurde Vorstellung“, sagte Ziercke, nachdem er über die Bedrohung durch Terrorismus, Skimming, Phishing und Stuxnet gesprochen hatte.

Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung wie das Verfahren „Quick Freeze“ und das vom Datenschutzbeauftragten Peter Schaar vorgeschlagene „Quick Freeze Plus“ bezeichnete Ziercke als „Schattenboxen“. Die Speicherdauer von sechs Monaten sei notwendig, um Netzwerkstrukturen des Terrorismus nachvollziehen zu können. Das Bundeskriminalamt sei keine Bundessammelstelle für die Daten aller Bürger, betonte Ziercke. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes seien kein Hinweis darauf, dass deutsche Bürger die Vorratsdatenspeicherung ablehnten.

Ziercke verwies auf die Praxis und Möglichkeiten des US-amerikanischen FBI, das Daten in ungeahntem Ausmaß speichern, Server „umlenken“ und Stoppschilder aufbauen könne. Dies sei unvorstellbar in Deutschland, wo er beim ersten Stoppschild seinen Job loswerden würde, meinte Ziercke. Aus besagter Umlenkungs-Aktion gewann das FBI nach seinen Angaben 60.000 IP-Adressen aus Deutschland „und wir konnten nichts dazu sagen“.

[Update: Nach Angaben von Ziercke leben in Deutschland derzeit 125 islamistische Gefährder, von denen 110 paramilitärisch ausgebildet wurden. 40 von diesen hätten wiederum an Kampfhandlungen teilgenommen. Rund um diese extrem gefährlichen Personen gebe es 280 relevante Personen aus 15 bis 16 unterschiedlichen Organisationen, die logistische und personelle Hilfen leisten könnten. Das Gesamtspektrum der islamistischen Szene bezifferte Ziercke auf tausend Personen. Ziercke berichtete von Gesprächen mit Vertretern verschiedener Organisationen über die Frage, wie ein „europäischer Islam“ gelehrt werden könnte, der an die Gläubigen als aktive Staatsbürger appelliert, dass sie Verdächtige melden, wie dies Bundesbürger tun, die sich mit ihrem Staat identifizieren.]

Rainer Griesbaum, Abteilungsleiter Terrorismus bei der Generalbundesanwaltschaft, beklagte, dass die Ermittler „immer einen Schritt zurück“ seien. Er wünsche sich eine gesetzliche Lösung, um „nicht auf das Verschieben von Informationen in den Grauzonen angewiesen zu sein“. Das Justizministerium müsse seine Hemmungen überwinden. „Wir setzen auf leise Töne, auf Gespräche mit den Fachleuten, auf das Überzeugen durch Fakten und auf den kleinen Dienstweg zum Ministerium,“ erklärte Griesbaum, der ständiger Vertreter des Generalbundesanwaltes ist.

Auf der Jahrestagung der Sicherheitstechniker wurden an zwei Tagen Themen wie zum Beispiel die bauliche Absicherung von Gefängnissen und Psychiatrien, das Bewältigen von Krisenlagen in Schulen und die Korruptionsbekämpfung in Behörden und Unternehmen behandelt. Über 60 Firmen zeigen Schließ- und Zutrittslösungen und die neuesten Trends bei der Videoüberwachung. Hier setzt die Branche auf intelligente Systeme, die die Bilderflut kanalisieren und mit Algorithmen nach verdächtigen Bewegungen oder stehen gelassenen Gegenständen fahnden und dann nur diese Bilder dem Operator im Kontrollzentrum präsentieren.

Noch in den Kinderschuhen steckt dabei die Arbeit an der „blickinduzierten Videotechnik“: Ein geschulter Operator kann beim Schwenk über die Fankurve beispielsweise die 10 oder 15 Personen erkennen, die bei einem Fussballspiel als Anstifter beobachtet werden müssen. Anstatt nun diese Personen mit Mausklick zu markieren oder auf sie zu zoomen, sollen Kameras am Monitor allein am Blick des Operators erkennen, welche Bildbereiche verschärft beobachtet werden müssen. (Detlef Borchers) / (anw)

VORRATSDATENSPEICHERUNG:

Telekom: Wir löschen gerade 19 Terabyte Vorratsdaten

Telekommunikationsfirmen stellen Vorratsdatenspeicherung ein

Kaum hatte gestern das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung als verfassungswidrig bezeichnet, begannen die Telekomkonzerne damit, die Daten auf ihren Speichern zu vernichten. Die Deutsche Telekom und Vodafone sind dabei, mehrere Terabyte an Daten unwiederbringlich zu löschen.

Die Telekommunikationsunternehmen in Deutschland reagieren unmittelbar auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Vorratsdatenspeicherung. Deutsche-Telekom-Sprecher Philipp Blank sagte Golem.de: „Wir geben keine Auskunft zu Vorratsdaten mehr, wir speichern keine Vorratsdaten mehr und haben damit begonnen, die bereits gespeicherten Vorratsdaten zu löschen.“ Das Speichervolumen der Vorratsdaten liege bei rund 19 Terabyte, das Löschen „wird ein wenig Zeit in Anspruch nehmen“, so Blank.

Auch Vodafone-Sprecher Kuzey Esener sagte Golem.de, der Konzern habe schon gestern Nachmittag kurz nach der Urteilsverkündung angefangen, die Speicherung und die Erteilung von Auskünften zu stoppen. „Und wir löschen bereits die Daten, wie die Deutsche Telekom“. Sicherungskopien der Vorratsdaten würden nicht aufbewahrt, die Löschung sei vollständig und endgültig.

Laut dem Urteil des Verfassungsgerichts verstößt die Speicherung der Verkehrsdaten der Telefon- und Internetverbindungen von 82 Millionen Menschen über sechs Monate in Deutschland gegen das Grundgesetz und ist damit nichtig. Das Gericht ordnete an, dass die gespeicherten Daten zu löschen sind. Die Vorratsdatenspeicherung sei zwar nicht grundsätzlich verfassungswidrig, aber ihre derzeitige Umsetzung. Das Gesetz sei nicht verhältnismäßig, fehlende Datensicherheit und Verschlüsselung bei der gigantischen Sammlung lüden zum Missbrauch ein und Betroffene würden über die Verwendung ihrer Daten nicht benachrichtigt. Auch die Verwendungszwecke der Daten seien nicht hinreichend begrenzt.

Der Verband der deutschen Internetwirtschaft Eco, der die Vorratsdatenspeicherung vor allem wegen der Kosten für seine Mitglieder abgelehnt hatte, sah die Entscheidung mit Freude – allerdings auch mit Sorge. Das Bundesverfassungsgericht habe hohe Anforderungen an die Sicherheit der auf Vorrat zu speichernden Daten gestellt, die im Falle einer Neuregelung sehr hohe Kosten für die Internetwirtschaft mit sich brächten.

Verbandschef Michael Rotert sagte: „Das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Sicherheitsniveau bringt es mit sich, dass die Kosten dieser Maßnahme für die Internetwirtschaft dramatisch ansteigen. Wir hatten nach altem Gesetz mit Kosten von über 300 Millionen Euro allein für Anschaffungen der nötigen Speichertechnik gerechnet. Nunmehr gehen wir davon aus, dass die Kosten für die neue Vorratsdatenspeicherung wahrscheinlich erheblich steigen.“ Die Bundesregierung müsse den Telekommunikationsunternehmen diese Kosten erstatten.

Wie es mit der Vorratsdatenspeicherung weitergeht, ist indes unklar. Datenschützer möchten die zugrundeliegende EU-Richtlinie auf europäischer Ebene zu Fall bringen. Die CDU drängt hingegen auf einen neuen Gesetzesentwurf, der die EU-Richtlinie umsetzt.

QUelle: http://www.golem.de/1003/73564.html

Interner Bericht der EU-Kommission zur Vorratsdatenspeicherung will Ausweitung

Die Bedenken der und die Ablehnung durch die Zivilgesellschaft werden völlig ignoriert. Sogar eine Ausweitung zur Speicherung des Surfverhaltens wird angedacht. Ziel ist es den Urheberrechtsverwerten Daten zu liefern.

(5.1.2012, 13:16) Die Vorratsdatenspeicherung soll den Bürgern laut einem internen Bericht besser erklärt werden. Die Argumentation erfolgt ganz im Sinne der Sicherheitsbehörden, die die Vorratsdatenspeicherung als wichtiges Werkzeug zur Aufklärung schwerer Straftaten sehen. Die große Kritik an der verdachtsunabhängigen Speicherung von Telekommunikationsdaten sei darauf zurückzuführen, dass die Nützlichkeit der Daten nicht nachvollziehbar sei:

  • Nur eine Minderheit von Mitgliedsstaaten haben bisher Daten abgeliefert.
  • Die Vorratsdatenspeicherung stellt einen schweren Eingriff in die Privatsphäre der Menschen dar und ist deshalb nur zulässig, wenn sie notwendig und verhältnismäßig ist. Das nun veröffentlichte Dokument zeigt, dass, obwohl die Kommission die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung nicht belegen kann, an der Richtlinie festgehalten werden soll.

Beachtet wird im Bericht jedoch der Wunsch der Sicherheitsbehörden auf die Sammlung von noch mehr Kommunikationsdaten: Geht es nach den Ermittlern werden zukünftig auch bei Instant-Messaging und Chat Konversationen (zB über Skype) gespeichert, wer mit wem kommuniziert.

Weiter sollen Daten von Up- und Downloads gespeichert werden. Dies geht weit über die jetzigen Bestimmungen hinaus. Da jedes Surfen im Web einen Download bedeutet, würde eine Aufnahme dieser Daten eine umfassende Überwachung des europäischen Internetverkehrs bedeuten.

Weiter soll der Verwendungszweck drastisch ausgeweitet werden: Waren Daten bisher nur für die Aufklärung „schwerer Verbrechen“ vorgesehen, beschreibt der Bericht Bestrebungen über die Ausweitung des Verwendungszwecks auf Urheberrechtsverletzungen. Dies stellt eine völlige Abkehr von der ursprünglichen Begründung als Anti-Terrormaßnahme, hin zur Verwendung bei zivilrechtlichen Delikten, dar.

„Der Bericht zeigt eindeutig, wie nachlässig mit den Bedenken der Bevölkerung umgegangen wird“ sagt Andreas Krisch vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. „Die Vorratsdatenspeicherung stellt einen schweren Grundrechtseingriff dar, von dem weder die Notwendigkeit noch die Verhältnismäßigkeit belegt sind. Die Kommission beruft sich alleine auf die Nützlichkeit der Vorratsdatenspeicherung.

Sie ignoriert damit sämtliche Einwände der Zivilgesellschaft sowie der Verfassungsgerichte mehrerer Mitgliedsstaaten: Der Nutzen alleine reicht nicht aus um Bürger unter Generalverdacht zu stellen.“ Seit Oktober sammelt der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung schon Unterschriften für eine BürgerInneninitiative zur Abschaffung der EU-Richtlinie.

Bis heute sind bereits mehr als 27.000 Unterschriften über http://zeichnemit.at gesammelt worden. Direkt zur Unterzeichnung geht es hier.

http://www.telekom-presse.at/Interner_Bericht_der_EU-Kommission_zur_Vorratsdatenspeicherung_will_Ausweitung.id.18148.htm

Sicherheit geht vor Sammelwut – Vorratsspeicherung gefährdet Menschenleben
Dieser Bericht erläutert, warum eine ungezielte Protokollierung jeder Verbindung den Schutz von Kindern und Menschenleben gefährdet, warum eine Vorratsdatenspeicherung die Ermittlung von Straftätern nicht erleichtert, warum die EU Deutschland nicht zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet und welcher Verbesserungen die Strafverfolgung wirklich bedürfte.
1 Einführung 1.1 Traditionelle Vertraulichkeit von Gesprächen
Wenn wir miteinander sprechen oder einander Briefe schreiben, können wir sicher sein, dass unsere privaten und geschäftlichen Kontakte vertraulich bleiben. Niemand fertigt Aufzeichnungen darüber an, und wir müssen niemandem Rechenschaft darüber ablegen, mit wem wir gesprochen haben, wo wir gewesen sind oder was wir gelesen haben. Nicht anders ist dies seit jeher bei Telefongesprächen und Internetverbindungen gewesen: Telefongespräche wurden bis in die 80er Jahre analog vermittelt. Aufzeichnungen darüber wurden nur auf richterliche Anordnung erstellt. Mit der Einführung digitaler Vermittlungstechnik wurde dann erstmals die elektronische Erfassung jedes Telefongesprächs möglich. Die Telekommunikationsgesellschaften durften aber nur die zur Abrechnung erforderlichen Informationen erfassen. Kunden konnten die verkürzte Erfassung der gewählten Rufnummern und die Löschung aller Aufzeichnungen mit Rechnungsversand verlangen. Durch Nutzung von Pauschaltarifen konnten sie die Erfassung ihrer Verbindungen insgesamt verhindern.ImVerdachtsfallkonntendiezuständigenBehörden Abrechnungsdaten einsehen und zukünftige Verbindungen aufzeichnen lassen.

1.2 Einführung einer Vorratsdatenspeicherung zum 01.01.2008
Trotz verbreiteter Proteste von Bürgern und Experten wurde zum 01.01.2008 erstmals die verdachtsunabhängige Erfassung und sechsmonatige Speicherung sämtlicher Telefon- und Handyverbindungen in Deutschland eingeführt. Bei jedem Handytelefonat und jeder versandten oder eingegangenen SMS wurde der Standort des Handynutzers erfasst. Zum 01.01.2009 musste dann auch jede Internetverbindung erfasst werden. In Verbindung mit anderen Daten konnte sechs Monate lang festgestellt werden, was wann über unseren Internetanschluss getan wurde.
1.3 Ende der Vorratsdatenspeicherung am 04.03.2010
34.000 Bürgerinnen und Bürger reichten gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung Verfassungsbeschwerde ein. Am 04.03.2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und hob sie auf. Seither gilt wieder die bewährte Regel, dass unsere Verbindungen nur ausnahmsweise erfasst werden dürfen, wenn dies zur Rechnungsstellung nötig ist.
1.4 Kampagne zur Wiedereinführung
Im Oktober 2010 wurde bekannt, dass CDU und CSU eine „öffentliche Kampagne“ eingeleitet haben, um die FDP zu einem neuen Gesetz zur Erfassung aller Verbindungsdaten zu bewegen. Die FDP hat eine solche Vorratsdatenspeicherung immer wieder als unverhältnismäßig abgelehnt; Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger war dagegen sogar vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Bundesinnenminister de Maizière (CDU) und der Präsident des nachgeordneten Bundeskriminalamts wollen nun aber am 08.10.2010 „anhand möglichst spektakulärer Fälle“ belegen, dass es wegen der aktuellfehlendenSpeicherpflicht„blindeFleckeninder Verbrechensbekämpfung“ gebe. Das Bundeskriminalamt hat dazu einen Bericht über die Auswirkungen des Endes der Vorratsdatenspeicherung am 04.03.2010 erstellt.

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung als Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internetnutzern legt mit diesem Bericht eine eigene Expertise über die Forderung nach Erfassung aller Verbindungen vor.
2 Vorratsdatenspeicherung gefährdet den Schutz von Kindern und Menschenleben
Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen hat schwerwiegende unerwünschte Nebenwirkungen auf unser Leben und auf unsere Gesellschaft:
2.1 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen gefährdet den Schutz von Kindern und kann Menschenleben kosten
Das Leben und die Gesundheit potenzieller Opfer von Gewalttaten kann in vielen Fällen nur durch anonyme Beratung geschützt werden (z.B. Telefonseelsorge, Hotlines). Viele Täter sind nur im Schutz der Anonymität bereit, sich helfen zu lassen, wobei sie vielfach von geplanten Gewalttaten abgebracht oder von der Notwendigkeit einer Behandlung überzeugt werden können. Viele Opfer können sich nur im Rahmen anonymer Beratung entschließen, Täter anzuzeigen. Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen gefährdet die Bereitschaft von Tätern und Opfern zur Inanspruchnahme von Beratung und gefährdet damit Menschenleben.
Nach einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts muss für bestimmte, auf besondere Vertraulichkeit angewiesene Telekommunikationsverbindungen ein „grundsätzliches Übermittlungsverbot“ an staatliche Stellen gelten. Dies lässt aber erstens Ausnahmen zu, so dass im Fall einer Anrufererfassung weiterhin eine Aufdeckung gegenüber staatlichen Stellen drohen würde. Zweitens ließe ein Übermittlungsverbot das Risiko illegaler oder versehentlicher Offenlegung der erfassten Kontakte durch Telekommunikationsunternehmen, ihre Mitarbeiter
Beispiel 1: Im Jahr 2007 konnte ein bei der Telefonseelsorge in Bayern tätiger Pfarrer einen Jugendlichen überzeugen, einen geplanten Amoklauf in seiner Schule zu unterlassen. Wäre der Anruf rückverfolgbar gewesen, hätte der Jugendliche wohl nie über sein Vorhaben gesprochen.
Beispiel 2: Im Jahr 2010 erwägt ein betrogener Ehemann, seine Ehefrau oder ihren Liebhaber zu töten. Die Telefonseelsorge kann ihn davon abbringen. Wäre der Anruf rückverfolgbar gewesen, hätte der Mann wohl nie über sein Dilemma gesprochen.
Beispiel 3: Eine akut krebskranke Patientin vermeidet wegen der Vorratsdatenspeicherung, sich per Telefon oder E-Mail nach einer Behandlungsmöglichkeit für ihre Tumorerkrankung zu erkundigen und vereinbart stattdessen einen persönlichen Gesprächstermin in einemBerlinerKlinikum.DasAbwartenverzögertden Behandlungsbeginn. In der Zwischenzeit wächst der Tumor weiter, die Prognose der Patientin verschlechtert sich.

oder Hacker bestehen. Dieses Risiko hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach realisiert. Drittens kann nicht angenommen werden, dass sich Menschen in Notsituationen an den Feinheiten gesetzlicher Regelungen orientieren. Für ihre Bereitschaft zur Kontaktaufnahme ist entscheidend, ob ihre Rufnummer erfasst wird oder nicht. Dies zeigt die folgende Untersuchung:
Eine repräsentative Umfrage unter 1.002 Bundesbürgern am 27./28. Mai 2008 hat ergeben, dass mehr als die Hälfte der Deutschen wegen der Vorratsdatenspeicherung davon absehen würden, per Telefon, E-Mail oder Handy Kontakt zu einer Eheberatungsstelle, einem Psychotherapeuten oder einer Drogenberatungsstelle aufzunehmen, wenn sie deren Rat benötigten. Dies betrifft über 40 Mio. Menschen in Deutschland.
2.2 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen begünstigt Korruption
Korruption und andere öffentliche Missstände werden oftmals erst dann wirksam aufgeklärt und angegangen, wenn die Medien darüber öffentlich berichten. Wer Journalisten von solchen Fällen als Insider berichtet, riskiert aber oftmals seine Anstellung oder muss sogar mit einem Strafverfahren wegen Geheimnisverrats rechnen. Wichtige Missstände und Skandale melden Informanten der Presse daher nur im Schutze absoluter Vertraulichkeit. Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen gefährdet die Bereitschaft von Informanten, mit Journalisten zu sprechen, und begünstigt damit Korruption und andere Misstände im Verborgenen.
Beispiel 1: Der Journalist Philipp Kunze (Name geändert) aus Nordrhein-Westfalen befasst sich im Rahmen seiner Arbeit unter anderem mit Menschenrechtsverletzungen der EU-Grenzagentur Frontex. Bereits kurz nach Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung lehnen zwei Kontaktpersonen den Informationsaustausch via E-Mail ab.
Beispiel 2: Die Drehbuchautorin Maria Urner (Name geändert) aus Bayern recherchierte den Wismut-Skandal, in dessen Rahmen ca. 2.800 ehemaligen Uranerz-Bergmänner der DDR durch Radioaktivität in den Stollen Krebserkrankungen bekamen und nun keine Unfallrente erhalten. Nach dem 1.1.2008 bekommt Frau Urner bei telefonischen Recherchen, besonders in der ehemaligen DDR, nur noch zögerlich oder gar keine Auskünfte zu dem Thema mehr.
Beispiel 3: Der Sportjournalist Florian Schröder (Name geändert) aus Hamburg ist nach Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung damit konfrontiert, dass viele Informanten nicht nur Fragen am Telefon oder per E-Mails ablehnten, sondern auch direkte Gespräche und Treffen. Für seine Arbeit etwa beim Thema Doping sind die Auswirkungen katastrophal.
In einer Umfrage unter 1.489 deutschen Journalisten aus dem Jahr 2008 erklärtejedervierzehnteJournalist,dasBewusstsein,dass Kommunikationsdaten auf Vorrat gespeichert werden, habe sich bereits negativ auf die Kommunikation mit seinen Informanten ausgewirkt. Damit beeinträchtigte die Vorratsdatenspeicherung die Arbeit von hochgerechnet mindestens 3.000 Journalisten in Deutschland.

2.3 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen gefährdet die Wissenschaft
Wissenschaftliche Forschung setzt in vielen Bereichen die Bereitschaft von Menschen voraus, anonym über ihre Persönlichkeit und ihr Leben Auskunft zu geben. Werden alle Kontakte erfasst, können Forschungsprojekte an der fehlenden Bereitschaft zur Mitwirkung an Umfragen scheitern.
2.4 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen setzt Arbeitsplätze aufs Spiel
Geschäftsbeziehungen und Vertragsverhandlungen sind oft äußerst vertraulich. Eine Erfassung telefonischer oder elektronischer Kontakte schafft das Risiko, dass Geschäftsgeheimnisse bekannt werden (z.B. durch Wirtschaftsspionage), was großen Schaden nach sich ziehen kann. Deswegen verzichten Wirtschaftsunternehmen teilweise lieber ganz auf Kontakte als das Risiko unbefugter Offenlegung einzugehen. Dadurch können Unternehmen Aufträge verlieren, was Arbeitsplätze kosten kann.
Beispiel: Leon Schulz (Name geändert) arbeitet in der universitären Onlineforschung an einem Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie. Für seine psychologischen Studien über die menschliche Persönlichkeit sind oft sehr intime Fragen nötig. Diese Fragen werden vondenVersuchsteilnehmernnachInkrafttretender Vorratsdatenspeicherung nicht mehr beantwortet, wodurch die Forschung im Bereich Psychologie sehr leidet.

Beispiel:HansGrunwaldausBayernarbeitetinder Industrieproduktion. Sein Unternehmen, in dem acht Mitarbeiter tätig sind, fertigt für potenzielle Kunden aus ganz Europa Prototypen, wofür technische Zeichnungen oder sonstige sicherheitsrelevante Beschreibungen der Geschäftspartner benötigt werden. Nach Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung weigern sich mehrere Kunden, die erforderlichen Unterlagen per Email oder Telefax zu versenden. Dadurch verliert das Unternehmen einen Großkunden und muss zwei Arbeitnehmer entlassen.
2.5 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen lässt politische Kritiker abtauchen

Die Vorbereitung spektakulärer Protestaktionen gegen Gentechnik, gegen Atomenergie usw. bedarf oft absoluter Vertraulichkeit. Viele Menschen sind nicht zu einem Engagement in politisch kritischen Gruppen bereit, wenn sie damit rechnen müssen, in das Raster des Verfassungsschutzes zu geraten.
2.6 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen verhindert die Ermittlung von Straftätern
Eine verdachtsunabhängige Erfassung jedes Telefonats und jeder Verbindung gräbt sich in das Bewusstsein Unschuldiger wie Schuldiger ein. Eine Vorratsdatenspeicherung erhöht daher die Entwicklung und Nutzung anderer Kommunikationskanäle. Viele Menschen gehen dazu über, Gespräche nicht mehr telefonisch zu führen, wechselnde Handys zu benutzen oder mit ausländischen Anonymisierungsdiensten im Internet zu surfen. Dies verschließt den Ermittlern selbst im Fall eines konkreten Verdachts die Möglichkeit einer Überwachung und Aufklärung schwerster Straftaten.
In einer infas-Umfrage aus dem Jahr 2009 erklärten schon 12,8% der Befragten, einen Anonymisierungsdienst einzusetzen, 6,4%, sie seien zu einem Provider ohne Vorratsdatenspeicherung gewechselt, und 5,1%, dass sie Internet-Cafés benutzten. Eine jederzeitige Rückverfolgbarkeit durch Vorratsdatenspeicherung dürfte diese Entwicklung erheblich beschleunigen.
Beispiel 1: Patrick Schuhmacher (Name geändert) engagiert sich antifaschistischundbefürchtetmitInkrafttretender Vorratsdatenspeicherung, dass seine Daten besonders geprüft werden. Auf Telefongespräche und Internetkorrespondenz, die nicht unbedingt notwendig sind, verzichtet er daher.

Beispiel 2: Katharina Gärtner aus Baden-Württemberg ist in einer Attac-Gruppe aktiv. Seit Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung wirken die Diskussionsbeitrage im Internetforum der Gruppe wie zensiert, die Diskussionsteilnehmer trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu äußern.
Beispiel: Ein anonymer Nutzer kündigt im Polizisten-Forum Copzone einen Amoklauf an und bedroht dabei eine Arbeitsvermittlerin massiv. Weil er einen internationalen Anonymisierungsdienst nutzt, ist eine Identifizierung nicht möglich. Stattdessen wird versehentlich der Betreiber des Dienstes verhaftet.
2.7 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen führt zur Verfolgung Unschuldiger
Verbindungsdaten können die Ermittlung eines Anschlussinhabers ermöglichen, geben aber nicht an, wer das entsprechende Telefon oder Handy oder den Internetanschluss konkret genutzt hat. Durch Verbindungsdaten geraten daher viele Menschen zu Unrecht in einen falschen Verdacht, z.B. wegen eines Zahlendrehers, wegen eines verkauften Handys, wegen eines offenen Internetzugangs. Dies zieht immer wieder Überwachungsmaßnahmen, Hausdurchsuchungen oder sogar Festnahmen Unschuldiger nach sich und hat schon das Leben von Menschen ruiniert.
2.8 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen führt zum Bekanntwerden vertraulichster Beziehungen
Beinahe wöchentlich werden immer neue Fälle von Missbrauch, Verkauf, Verlust, Veröffentlichung von und Zugang zu persönlicher Daten bekannt. Heutzutage sind nur nicht erfasste Daten sichere Daten. Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen führt dazu, dass weit mehr Menschen unter dem Missbrauch, dem Verkauf, dem Verlust, der Veröffentlichung von und dem missbräuchlichen Zugang zu ihren vertraulichen Kontakten und Aufenthaltsorten leiden als sonst.
Beispiel 1: Die Wohnung eines deutschen Professors wurde durchsucht und seine Computer beschlagnahmt, weil er Kinderpornografie über das Internet verbreitet haben soll. Tatsächlich hatte sein Internet-Zugangsanbieter der Polizei eine falsche Auskunft erteilt.
Beispiel 2: Im Dezember 2008 stürmte das Spezialeinsatzkommando (SEK) die Wohnung eines 38jährigen Mannes in Recklinghausen. Die Polizei hatte von einer Amokdrohung erfahren. Erst später stellte sich heraus, dass ein Nachbar die Drohung über das offene Funknetz des Mannes versandt hatte.
Beispiel 1: Die Deutsche Telekom AG kontrolliert über einen Zeitraum von insgesamt anderthalb Jahren die Telefonverbindungen von Journalisten sowie von Arbeitnehmer-Aufsichtsräten, Managern und Betriebsräten des Unternehmens. Da keine Vorratsdatenspeicherung erfolgt, sind die Verbindungen von Menschen mit Pauschaltarifen vor missbräuchlicher Aufdeckung ihrer Kontakte geschützt.

Beispiel 2: Im Jahr 2006 verkaufte ein Mitarbeiter von T-Mobile die Daten der 17 Mio. Kunden des Mobilfunkunternehmens. Darunter befinden sich Privatanschriften und -nummern vieler Prominenter aus Kultur und Gesellschaft sowie eine erstaunliche Anzahl geheimer Nummern und Privatadressen von bekannten Politikern, Ministern, Ex-Bundespräsidenten,Wirtschaftsführern,Milliardärenund Glaubensvertretern, für die eine Verbreitung ihrer Kontaktdaten in kriminellen Kreisen eine Bedrohung ihrer Sicherheit darstellt (etwa von Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden). Das Bundeskriminalamt erstellt eine Gefährdungsanalyse, um Betroffene schützen zu können. Zur Aufklärung des Datenlecks verletzte T- Mobile erneut das Fernmeldegeheimnis und überprüfte illegal auf eigene Faust Verbindungsdaten.
3 Eine Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen verbessert die Ermittlung von Straftätern nicht
Der vom Bundeskriminalamt veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge hat die Erfassung aller Internetverbindungen im Jahr 2009 weder von Straftaten abgeschreckt, noch den Anteil der aufgeklärten Straftaten erhöht. Obwohl im Internetbereich Verbindungsdaten teilweise der einzige Ermittlungsansatz sind, konnte ohne Vorratsdatenspeicherung sogar eine höhere Aufklärungsrate erzielt werden.
Im Jahr 2008, in dem Internet-Einwahlen und E-Mails von den Anbietern allenfalls kurzfristig protokolliert wurden, wurden danach 167.451 Internet- Straftaten registriert, die zu 79,8% aufgeklärt werden konnten. Im Jahr 2009, in dem alle Internet-Einwahlen und E-Mails für sechs Monate protokolliert wurden, registrierte die Polizei demgegenüber 206.909 begangene Internet-Straftaten, und ihre Aufklärung gelang nur zu 75,7%.
Internetdelikte wurden ohne Vorratsdatenspeicherung weit häufiger aufgeklärt (79,8%) als sonstige Straftaten (54,8%). Das gilt übrigens auch für die Verbreitung von Kinderpornografie im Internet (87,5%). Von einem rechtsfreien Raum kann keine Rede sein. Andere Staaten auf der ganzen Welt (z.B. Österreich, Griechenland, Schweden, Rumänien, Norwegen, Australien, Kanada, Japan) ermitteln schon immer erfolgreich ohne Vorratsdatenspeicherung.
3.1 Die Zahlen des Bundeskriminalamts belegen keinen Bedarf

Ein aktuell diskutierter Bericht des Bundeskriminalamts über die „AuswirkungendesUrteilsdesBundesverfassungsgerichtszu Mindestspeicherungsfristen“ belegt keinen Bedarf nach einer neuerlichen Erfassung sämtlicher Telefongespräche und Verbindungen.
3.1.1 Die mitgeteilte Zahl ergebnisloser Auskunftsersuchen ist irrelevant
Für den Bericht wertete das Bundeskriminalamt Auskunftsersuchen an Telekommunikationsfirmen zu 1.157 Anschlüssen im Zeitraum 2. März bis 17. September 2010 aus. 85% dieser Auskunftersuchen betrafen Inhaber von Internetadressen. Zu 880 der erfragten Anschlüsse (76%) sei dem Bundeskriminalamt keine Auskunft erteilt worden. Die Auskunftersuchen zu Internetadressen seien zu 16% erfolgreich gewesen, die Auskunftersuchen zu Telefonen und Handys zu 86%.
Aus den folgenden Gründen belegen diese Zahlen keine „blinde Flecken in der Verbrechensbekämpfung“ oder „Schutzlücken“:

1. Wären im Fall einer Vorratsdatenspeicherung nicht ebenso viele Auskünfte unterblieben? Das Bundeskriminalamt liefert keine Vergleichswerte für die Zeit, als in Deutschland alle Verbindungen auf Vorrat erfasst wurden (2009). Deswegen belegen die Zahlen nicht, dass gegenwärtig weniger Auskünfte erteilt würden. 147 der ergebnislosen AuskunftsersuchendesBKAbetrafenbeispielsweise Internetverbindungen, die im Zeitpunkt der Anfrage (25.05.2010) bereits längeralssechsMonatezurücklagen(Zeitstempel: 29.05.2009-11.09.2009) und deswegen auch im Fall einer sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherungergebnislosgebliebenwären.Das Bundeskriminalamt liefert auch keine Vergleichswerte für die Zeit vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung. Deswegen belegen die Zahlen nicht, dass gegenwärtig weniger Auskünfte erteilt würden als seit jeher.

2.Wäre im Fall der Auskunfterteilung eine Identifizierung des Verdächtigen möglich gewesen? Das Bundeskriminalamt beantwortet diese Frage nicht. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass weitere Auskünfte zur Identifizierung weiterer Straftäter geführt hätten. In vielen Fällen verwenden Straftäter Internet-Cafés, offene Internetzugänge (WLAN), Anonymisierungsdienste, öffentliche Telefone, unregistrierte Handykarten usw. Eine Auskunft über den Anschlussinhaber ermöglicht eine Identifizierung des Nutzers in diesen Fällen nicht.
3.Wäre es im Fall der Auskunfterteilung zur Verurteilung des Verdächtigen gekommen? Das Bundeskriminalamt beantwortet diese Frage nicht. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass Auskünfte letztlich zur Verurteilung von Straftätern geführt hätten. Nach einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts im Auftrag des Bundesjustizministeriums kam es in 72% der Verfahren mit erfolgreicher Verbindungsdatenabfrage gleichwohl zu keiner Verurteilung.
4. Hat das Bundeskriminalamt Auskünfte angefordert, obwohl es von vornherein wusste, dass sie nicht erteilt werden können? Das Bundeskriminalamt beantwortet diese Frage nicht. Es liegt nahe, dass das Bundeskriminalamt die Zahl erfolgloser Auskunftsersuchen durch erkennbar aussichtslose Anfragen in die Höhe getrieben hat. Dem Bundeskriminalamt liegt eine Liste vor, wie lange welches Unternehmen Verbindungsdaten aufbewahrt (maximal eine Woche). Dennoch lagen 209 der ergebnislos angefragten Internetverbindungen länger als 10 Tage zurück, 147 weitere Internetverbindungen lagen sogar länger als sechs Monate in der Vergangenheit. In Anbetracht dieser von vornherein aussichtslosen Anfragen sind die vom Bundeskriminalamt ermittelten Zahlen manipuliert und wertlos. Dass die Untersuchung des
Bundeskriminalamts von vornherein auf ein feststehendes Ergebnis abzielte, zeigt schon die Bezeichnung der verwendeten Erhebungsbögen: „Erhebungsbogen zur Begründung des polizeilichen Bedarfs der Auskunft über längerfristig gespeicherte Verkehrsdaten“
5. In wie vielen Fällen kann das Bundeskriminalamt generell Täter mangels Spuren nicht identifizieren? Ohne eine Antwort auf diese Frage muss davon ausgegangen werden, dass physisch anwesende Täter oder Absender von Briefen seltener identifizierbare Spuren hinterlassen als Täter von Telefon- oder Internetdelikten. Es ist nicht einzusehen, warum Telefon und Internet gläserner sein sollten als persönliche Kontakte und diePost.TatsächlichwurdenInternetdelikteauchohne Vorratsdatenspeicherung zuletzt zu 79% aufgeklärt, während sonstige Straftaten nur zu 55% aufgeklärt wurden. Während vier Fünftel aller im Internet begangenen Straftaten aufgeklärt werden, bleibt etwa jeder zweite Raub unaufgeklärt.

3.1.2 Auswirkungen auf die Strafverfolgung sind nicht belegt
Dem Bericht des Bundeskriminalamts zufolge gelang in 636 der 1157 untersuchtenFälle(55%),indenendasBundeskriminalamtnach Telekommunikationsdaten fragte, die Aufklärung der Straftat nicht oder nicht vollständig.

Aus den folgenden Gründen belegt dies keine „blinde Flecken in der Verbrechensbekämpfung“ oder „Schutzlücken“:
1.Welche Aufklärungsquote ergibt sich bei einer statistisch repräsentativen Stichprobe? Die Zahlen des Bundeskriminalamts betreffen lediglich 1.157 „Auskunftsersuchen des BKA, die im Zeitraum vom 02.03. bis 17.09.2010 gestellt und erfasst wurden“. Es ist bereits ungeklärt, welche Auskunftsersuchen des BKA für die Auswertung erfasst wurden und nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte. 70% der für die Studie ausgewerteten Auskunftsersuchen betrafen zudem die Verbreitung von Kinderpornografie. Tatsächlich handelte es sich bei den 206.909 Straftaten, die 2009 im Internet begangen und polizeilich registriert wurden, aber zu 82% um Betrugsdelikte und nur zu 3% um die Verbreitung kinderpornographischer Schriften. Von den 6 Mio. Straftaten, die 2009 insgesamt registriert wurden, betrafen sogar nur 0,1% die Verbreitung kinderpornographischer Schriften. Die Zahlen des Bundeskriminalamts betreffen mithin nur einen sehr kleinen Teil der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, weil das Bundeskriminalamt dafür nur ausnahmsweise zuständig ist (§ 4 Abs. 2 BKAG). Die Zahlen des Bundeskriminalamts betreffen außerdem einen nicht repräsentativen Teil derDeliktsformen,nämlichvorwiegenddieVerbreitung
kinderpornographischer Schriften, obwohl diese tatsächlich nur einen sehr kleinen Teil der Kriminalitätswirklichkeit ausmacht. Die Zahlen des Bundeskriminalamts lassen daher keinen Rückschluss auf die Frage zu, ob das Ende der Vorratsdatenspeicherung Auswirkungen auf die Strafverfolgung insgesamt hatte.
2.Wie sind die Zahlen des Bundeskriminalamts mit der hohen Aufklärungsquote vor Geltung einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland in Einklang zu bringen? Internetdelikte wurden im Jahr 2008 auch ohne Vorratsdatenspeicherung zu fast 80% aufgeklärt, während sonstige Straftaten zu 55% aufgeklärt wurden. Warum diese Aufklärungsquoten nicht auch heute wieder erreicht werden sollen, erklärt dasBundeskriminalamtnichtschlüssig.DerHinweisdes Bundeskriminalamts auf die zunehmende Verbreitung von Flatrates verfängt nicht. Denn schon 2008, als Internetanbieter nicht auf Vorrat speicherten, nutzten 86% der Deutschen eine Internet-Flatrate und wurden gleichwohl 79% der registrierten Internetdelikte aufgeklärt. Deshalb ändern die Zahlen des Bundeskriminalamts nichts daran, dass auch gegenwärtig ohne Vorratsdatenspeicherung vermutlich eine weit überdurchschnittliche Aufklärungsquote bei Internetdelikten erzielt wird.

3. Wäre im Fall einer Vorratsdatenspeicherung ein größerer Teil der vom Bundeskriminalamt verfolgten Straftaten aufgeklärt worden? Das Bundeskriminalamt beantwortet diese Frage nicht. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass weitere Auskünfte zur Aufklärung weiterer Straftaten geführt hätten. Das Bundeskriminalamt teilt etwa nicht mit, wie viele Ermittlungsverfahren trotz erteilter Auskunft eingestellt werden mussten. Das Bundeskriminalamt liefert ferner keine Vergleichswerte für die Zeit, als in Deutschland alle Verbindungen auf Vorrat erfasst wurden (2009). Deswegen belegen die Zahlen nicht, dass gegenwärtig weniger Straftaten aufgeklärt würden als bei Geltung einer Vorratsdatenspeicherung. Das Bundeskriminalamt liefert schließlich keine Vergleichswerte für die Zeit vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung. Deswegen belegen die Zahlen nicht, dass gegenwärtig weniger Straftaten aufgeklärt würden als seit jeher.
4. Wären im Fall einer Vorratsdatenspeicherung mehr Täter verurteilt worden? Das Bundeskriminalamt beantwortet diese Frage nicht. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass weitere Auskünfte letztlich zur Verurteilung weiterer Straftäter geführt hätten. Nach einer UntersuchungdesMax-Planck-InstitutsimAuftragdes Bundesjustizministeriums kam es in 72% der Verfahren mit erfolgreicher Verbindungsdatenabfrage gleichwohl zu keiner Verurteilung.
3.2 Die Fallberichte des Bundeskriminalamts belegen keinen Bedarf
Die vom Bundeskriminalamt im Einzelnen geschilderten Straftaten belegen ebensowenig „blinde Flecken in der Verbrechensbekämpfung“ oder „Schutzlücken“:

3.2.1 „Ermordung eines Hamas-Funktionärs“
Im Zusammenhang mit der Ermordung eines Funktionärs der paramiliärischen Terrororganisation Hamas in Dubai im Januar 2010 lief ein Ermittlungsverfahren gegeneinenBeschuldigteninDeutschlandwegendesVerdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit. Über einen Mobilfunkanschluss wurden Gespräche des Komplotts rückwirkend noch mehrere Monate abgerechnet. Dadurch wollte das BKA Kontaktpersonen identifizieren und Ansätze für weitere Ermittlungen gewinnen.

Es ist nicht belegt und liegt fern, dass Verbindungsdaten hier weiter geführt hätten. Hamas-Mitglieder werden geschickt genug sein, um nur mit Handys zu telefonieren, die nicht auf ihren Namen registriert sind. Deswegen belegt der Fall nicht, dass eine Erfassung sämtlicher Verbindungen weiter geführt hätte.
3.2.2 „Wer verlinkte das Terror-Video?“
In einem Internetforum wurde am 12. April 2010 eine Videoverlautbarung einer terroristischen Vereinigung über verschiedene Links zur Verfügung gestellt. Einer davon stammte von einer unbekannten Person, deren E-Mail-Adresse einen Tag zuvor registriert worden war. Das BKA fragte am 20. April bei der Deutschen Telekom Kundendaten zu der IP-Adresse (Computeradresse im Internet) für den Registrierungstag (11. April) ab. Der Konzern teilte daraufhin mit, dass die Speicherfrist von sieben Tagen bereits abgelaufen sei und verwies auf das Verfassungsgerichtsurteil. Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.
Es ist nicht belegt und liegt fern, dass Verbindungsdaten hier weiter geführt hätten. Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass ein Terrorvideo vom Heimanschluss eines Unterstützers verlinkt wird. Wahrscheinlich hätten Verbindungsspuren nur zu einem Internetcafé oder einem offenen Internetzugang (WLAN) geführt und damit nichts zu der Ermittlung beigetragen.
3.2.3 „Terrordrohung gegen Schulen“
Ein Unbekannter versandte seit Dezember 2009 über ein Briefzentrum mehr als 100 Briefe, in denen er Sprengstoffanschläge androhte. Adressaten waren Schulen, Universitäten und Bürger. Falls sie eine gewisse Geldsumme nicht zahlten, sollten sie getroffen werden. Der Täter kontaktierte per E-Mail am 22. April eine Geschädigte über deren Profil bei „studiVZ“. Zwar bekam das BKA von
dem Netzwerk die IP-Adresse des Absenders und fand den dahinter stehenden Anbieter Vodafone. Doch der teilte mit, dass er solche Daten nicht speichere. Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.
Es ist nicht belegt und liegt fern, dass Verbindungsdaten hier weiter geführt hätten. Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass der Urheber von 100 Bombendrohungen eine Vodafone-Internetkarte nutzt, die auf seinen Namen registriert ist. Sinnvollerweise wird „studiVZ“ eine Fangschaltung einrichten: Wenn sich der Täter wieder anmeldet, wird seine Kennung der Polizei übermittelt. Während der bestehenden Internetverbindung kann Vodafone die Anschlussdaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung feststellen.
3.2.4 „Mafiamord in Leverkusen“

Ein italienischer Staatsbürger wurde am 15. Januar 2010 in Leverkusen ermordet. Als der 43-jährige noch lebte, hatte er sich unangemeldet in Köln aufgehalten. Das BKA erfuhr von italienischen Behörden, dass das Mordopfer der Mafia nahe gestanden haben soll. Dem BKA gelang es, den möglichen Tatort und vier Verdächtige zu ermitteln. Für ein Ermittlungsverfahren wäre laut des BKA jedoch die Auswertung von Telefondaten erforderlich gewesen. Aber einen solchen Antrag lehnte die Staatsanwaltschaft Köln ab. Fazit des BKA: Die Aufklärung des Mordes sei zumindest „wesentlich erschwert“.
Offensichtlich konnte der Fall auch auf anderem Wege aufgeklärt werden. Im Übrigen steht in den Sternen, ob Verbindungsdaten weiter geführt hätten. In Mafiakreisen liegt dies fern.
3.2.5 „Polizistenmord“
In Brandenburg wurde am 23. November 2009 der Mord an dem 46-jährigen Polizeihauptkommissar Steffen M. bekannt. Der oder die Täter flüchteten mit dem Auto des Opfers. Dieses wurde laut BKA abgestellt und eine andere „Beförderungsmöglichkeit“ per Handy angefordert. Am 18. Februar erging beim Amtsgericht Cottbus ein Beschluss, dass die Daten abgefragt werden dürfen. D2 Vodafone teilte dem BKA daraufhin am 9. März 2010 mit, dass für das betreffende Handy am 7. März keine Verkehrsdaten mehr vorliegen würden. Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.
Es ist nicht belegt und liegt fern, dass Verbindungsdaten hier weiter geführt hätten. Wenn der Täter einen Komplizen angerufen hat, wird dieser geschickt genug gewesen sein, mit einem Handy zu telefonieren, das nicht auf seinen Namen registriert war. Deswegen belegt der Fall nicht, dass eine Erfassung sämtlicher Verbindungen weiter geführt hätte.
3.2.6 „Hinweise auf Kindesmissbrauch“
Das BKA erhielt am 14. Mai 2010 die Meldung über einen Kindesmissbrauch. In einem Internetforum fand sich ein Hinweis vom 6. Mai darüber, dass ein Stiefvater seinen Sohn missbraucht und ihn deswegen sogar teilweise mit Medikamenten ruhig stellt. Der Nutzername war anonym und ausschließlich die IP-Adresse sichtbar. Das BKA forschte noch am 14. Mai nach, bekam aber keine Auskunft. Aus dem Inhalt des Textes konnten keine Hinweise auf die Identität des Nutzers gezogen werden. Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.
Es ist nicht belegt und liegt fern, dass Verbindungsdaten hier weiter geführt hätten. Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass der Betroffene über einen auf seinen Namen angemeldeten Anschluss über seine Straftaten berichtet hat. Sinnvollerweise wird der Betreiber des Forums eine Fangschaltung einrichten: Wenn sich der Täter wieder anmeldet, wird seine Kennung der Polizei übermittelt. Während der bestehenden Internetverbindung kann der Internet- Zugangsanbieter die Anschlussdaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung feststellen.
Selbst wenn dieser Kindesmissbrauch hätte beendet werden können, hätte eine Vorratsdatenspeicherung den Schutz einer weit größeren Anzahl von Kindern vereitelt: Nicht rückverfolgbare, anonyme Beratung ist zum Schutz unzähliger Kindern und Erwachsener unverzichtbar. Anonymen Telefonberatungsstellen gelingt es immer wieder, Täter von Kindesmissbrauch und Pädophile zu überzeugen, sich in Behandlung zu begeben. Gewalttätige Ehemänner werden überzeugt, sich in Therapie zu begeben. HIV-Infizierte werden überzeugt, andere nichtweiterdurchungeschütztenGeschlechtsverkehrmitder lebensbedrohenden Krankheit anzustecken. Die Gesundheit Unschuldiger steht und fällt mit der Verfügbarkeit nicht rückverfolgbarer Beratung.

3.2.7 „Botnetz“
Ein Ermittlungsverfahren in Luxemburg ergab nach der Auswertung eines beschlagnahmten Computerservers als Teil eines illegalen Botnetzes, dass dieser zur „Verschleierung der Täterkommunikation“ und zur „Erlangung der digitalen Identität“ von Nutzern diente. Es wurden 218.703 deutsche IP-Adressen, die auf den Server zugriffen, mit „Zeitstempel November 2009“ an das BKA übermittelt. Die Fahnder wollten über die Länderpolizeien die Computerbesitzer in Deutschland informieren. Doch das Auskunftsersuchen wurde weitgehend abgelehnt. Das betraf allein in Nordrhein-Westfalen und Hessen 169.964 IP-Adressen. Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.
Es ist nicht die Aufgabe der Polizei, Computerbenutzer über eine Infektion ihres Computers zu informieren. Dies ist in erster Linie Aufgabe des Nutzers selbst. In zweiter Linie tun dies die Internet-Zugangsanbieter im Rahmen ihrer Anti-
Botnetz-Initiative, ganz ohne Vorratsdatenspeicherung. In dritter Linie wäre es sinnvoll, die Hersteller gebrauchsfertiger Computersysteme zu verpflichten, Computer nur noch mit vorinstalliertem Virenscanner auszuliefern.
3.2.8 „Kontakte einer radikal-islamischen Untergrundorganisation“
Das BKA wollte nach Hinweisen von amerikanischen und libanesischen SicherheitsbehördenMitgliederdersunnitischenradikal-islamischen Untergrundorganisation Fatah al-Islam in Deutschland aufspüren und identifizieren. Das gelang bei einem Mann, weil er falsche Ausweispapiere hatte und gegen ihn ein libanesischer Haftbefehl vorlag. Nach der Festnahme befindet sich der Mann in Auslieferungshaft. Das BKA konnte aber keine Kontaktpersonen ermitteln. Der Grund: Die Telekommunikationsfirmen gaben Telefon- und Internetverbindungsdaten nicht oder nur unvollständig heraus. Fazit des BKA: „Somit konnte keine vollständige Aufhellung der Szene erfolgen“.

Es ist nicht belegt und liegt fern, dass weitere Verbindungsdaten die „Szene“ hier „vollständig erhellt“ hätten. Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass Mitglieder einer Untergrundorganisation über auf ihren eigenen Namen registrierte Telefon- oder Internetanschlüsse miteinander kommunizierten. Wahrscheinlich hätten Verbindungsspuren nur zu einem Internetcafé oder einem offenen Internetzugang (WLAN) geführt und damit nichts zu der Ermittlung beigetragen.
4DieEUverpflichtetDeutschlandnichtzur Vorratsdatenspeicherung
Die EU-Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet Deutschland nicht zu einer Erfassung sämtlicher Verbindungen. Die EU-Verträge (Art. 114 Abs. 4 AEUV) erlauben es Deutschland, aus wichtigem Grund von solchen Richtlinien abzuweichen und abweichende Gesetze beizubehalten. Der Schutz Unschuldiger und ihrer Grundrechte ist Bestandteil der öffentlichen Ordnung Deutschlands und rechtfertigt eine Abweichung von der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Die Bundesregierung muss dazu lediglich eine entsprechende Anzeige bei der EU-Kommission machen.

Allerdings überprüft die EU-Kommission derzeit ohnehin, ob die EU-Richtlinie 2006/24/EG verhältnismäßig ist. Sowohl EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström wie auch EU-Justizkommissarin Viviane Reding hatten damals gegen die Richtlinie gestimmt. Die EU-weite Vorgabe einer Erfassung aller Verbindungsdaten wird voraussichtlich schon deshalb geändert werden müssen, weil der Verfassungsgerichtshof Rumäniens entschieden hat, dass eine Vorratsdatenspeicherung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention generell unvereinbar ist.
Vor einigen Monaten hat der irische High Court in Dublin bereits angekündigt, dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob die EU-Richtlinie zur Speicherung aller Verbindungsdaten gegen die Ende 2009 in Kraft getretene EU- Grundrechtecharta verstößt und unwirksam ist. „Es ist klar, dass Überwachungsmaßnahmen gerechtfertigt sein müssen und in der Regel gezielt erfolgen sollten“, heißt es in dem Urteil vom 05.05.2010. Ob die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 überhaupt Bestand haben wird oder ob sie der Europäische Gerichtshof – wie zuvor die Verfassungsgerichte Rumäniens und Deutschlands – aufheben wird, bleibt abzuwarten.
5 Die Strafverfolgung bedarf Verbesserungen ganz anderer Art
Wirklich nützlich zur Verbesserung der Strafverfolgung wären ganz andere Maßnahmen als eine Erfassung aller Verbindungsdaten:
5.1 Schnelle Datensicherung, bessere Ausbildung und Ausstattung
National und international wäre es hilfreich, wenn in rechtsstaatlichem Rahmen eine unverzügliche, schnelle und möglichst unbürokratische Sicherung ohnehin gespeicherterComputer-undVerkehrsdatenfürnachfolgende Übermittlungsersuchen veranlasst werden könnte. Wenn auf der Straße ein Verdächtiger noch am Tatort angetroffen wird, kann er festgehalten und seine Identität festgestellt werden. Ebenso wäre es im Internet wichtig, dass ein Tatverdächtiger während der noch bestehenden Internetverbindung durch seinen Internet-Zugangsanbieter auf Ersuchen der Polizei identifiziert wird und die Daten für ein nachfolgendes Ermittlungsverfahren verfügbar gehalten werden. Zurzeit dauert es viel zu lange, bis eine Strafanzeige zu einem sachkundigen Polizeibeamten gelangt; außerdem existiert dann kein Verfahren, in dem der Polizeibeamte die unverzügliche Identifizierung des Verdächtigen durch dessen Internet-Zugangsanbieter anordnen kann.

Der Bund deutscher Kriminalbeamter fordert dementsprechend beispielsweise die Einrichtung von leistungsfähigen Spezialdienststellen zur Bekämpfung der Computerkriminalität, die Entwicklung eines Berufsbildes „Computerkriminalist“ mit eigenen Aus- und Fortbildungsgängen, die zusätzliche Einstellung von Experten mit abgeschlossenen Studiengängen der Informatik, Mathematik und Betriebswirtschaft und Fortbildung zum Kriminalisten, die Entwicklung standardisierter Sachbearbeitungsverfahren für häufige Arbeitsweisen der Computerkriminalität, die Entwicklung internationaler Standards für IT-Forensik unddieBenennungvonSchwerpunktstaatsanwaltschaftenfür Computerkriminalität.
Die Bundesjustizministerin fordert ebenfalls eine bessere Ausstattung der Ermittler: „Wenn sich in Hamburg 1450 Kripobeamte 50 Rechner mit Internetzugang teilen müssen, wird es schon schwierig mit der Aufklärung. Wenn das BKA nur 30 Experten hat, um gegen Kinderpornografie vorzugehen, ebenfalls. Wenn im gleichen Deliktfeld die personellen Kapazitäten fehlen, Computer-Festplatten hinreichend auszuwerten, dann ist doch klar: Es gibt Vollzugsdefizite, die behoben werden müssen.“
5.2 Kriminalprävention durch Datenschutz
Die häufigste Internet-Straftat ist Betrug, der oft durch Verwendung fremder Identitäten oder Zahlungsdaten begangen wird. Zur Verhütung von Identitätsdiebstahl und sonstigem Datenmissbrauch muss die Verfügbarkeit persönlicher Daten für Straftaten reduziert werden.

1. Dazu muss die Erfassung, Aufbewahrung und Weiterstreuung persönlicher Informationen von Internetnutzern reduziert werden:
•Anbietern von Internetdiensten muss untersagt werden, die Bereitstellung von Internetdiensten von der Angabe personenbezogener Daten abhängig zu machen, die zur Bereitstellung des Dienstes nicht erforderlich sind („Koppelungsverbot“)
• Schutz der Nutzer vor unangemessenen Datenverarbeitungs- Einwilligungsklauseln, indem klargestellt wird, dass derartige Klauseln einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen
•Verbot der Erstellung von Nutzerprofilen ohne Einwilligung des Nutzers •Erstreckung des Fernmeldegeheimnisses auf Anbieter von
Internetdiensten
• Schaffung von Rechtssicherheit durch Klarstellung, dass der gesetzliche Datenschutz auch für Internet-Protocol-Adressen gilt

• Anbieter kommerzieller Internetdienste müssen persönliche Daten nach dem jeweiligen Stand der Technik schützen
•Anbieter kommerzieller Internetdienste müssen ihre Nutzer über die Dauer der Aufbewahrung ihrer Daten und über die getroffenen technischen Vorkehrungen zum Schutz ihrer Daten informieren
2. Außerdem muss die Durchsetzung der Gesetze zum Schutz persönlicher Informationen im Internet verbessert werden:
• Wettbewerber, Verbraucherzentralen und Datenschutzverbände müssen das Recht erhalten, Datenschutzverstöße kommerzieller Anbieter von Internetdiensten abzumahnen
•Der Verlust persönlicher Daten durch Anbieter von Internetdiensten muss einen Anspruch der Betroffenen auf pauschale Entschädigung nach sich ziehen (z.B. 200 Euro pro Person)
• Privacy by design: Kommerzielle informationstechnische Produkte zur Verarbeitung personenbezogener Daten dürfen nicht so voreingestellt sein, dass der Verwender gegen deutsches Datenschutzrecht verstößt
5.3 Kriminalprävention durch Verbraucherschutz

Security by default: Gebrauchsfertige Geräte zur Internetnutzung sowie kommerzielle Internetdienste müssen von ihrem Hersteller bzw. Anbieter so voreingestellt und bereit gestellt werden, dass die Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Unversehrtheit der Nutzerdaten dauerhaft nach den anerkannten Regeln der Technik gewährleistet ist (z.B. automatische Sicherheitspatches, Firewall, Schadprogrammerkennung). Der Nutzer muss dabei stets die volle Kontrolle über Vorkehrungen zu seinem Schutz behalten und diese auch abschalten können.
„Beipackzettel“: Gebrauchsfertigen Geräten zur Internetnutzung sollten einfache Hinweise zur Vorbeugung vor häufigen Internetdelikten und zur richtigen Reaktion darauf beigefügt werden.
Opfern von Schadprogrammen sollte kostenfreie Unterstützung bei deren Beseitigung zur Verfügung stehen (z.B. Hotline).
6 Ergebnis
Im Ergebnis zeigt sich, dass die gegenwärtig verfügbaren Kommunikationsdaten ganz regelmäßig zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen und dass Menschen in allen Bereichen der Gesellschaft auf die Möglichkeit angewiesen sind, telefonische und elektronische Gespräche ebenso vertraulich und spurenlos führen zu können wie persönliche Gespräche. Die Erfahrung mit einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zeigt, dass bei Erfassung sämtlicher Verbindungen nicht mehr Straftaten aufgeklärt oder verhindert wurden als ohne eine solche Vorratsdatenspeicherung; etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Berichten des Bundeskriminalamts. Selbst wenn aber in vereinzelten Ermittlungen eine Erfassung aller Verbindungsdaten nützlich wäre, so stünde jedem erhofften Erfolg die Unaufklärbarkeit vieler anderer Straftaten und die Gefährdung von Menschenleben infolge einer Vorratsdatenspeicherung gegenüber.
Insgesamt betrachtet ist eine anlass- und verdachtslose Aufzeichnung jeder Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetverbindung für die Strafverfolgung nutzlos und zudem völlig unverhältnismäßig. Wer Straftaten wirklich wirksamer verfolgen will, müsste ganz andere organisatorische und gesetzliche Maßnahmen ergreifen, wie sie in diesem Bericht vorgeschlagen werden. Die Symboldebatte zum Thema „Vorratsdatenspeicherung“ droht von den wahren Versäumnissen bei dem Schutz der Bürger abzulenken.
23.12.2010
Quelle: http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Bericht_Sicherheit-vor-Sammelwut.pdf