„Für faire Wahlen!“ Die Sitzung wird um das Sumpfgebiet in Moskau, 2011.12.10 / Protest in Moskau, Bolotnaya Square

extra3 – „Putin Kampfschlumpf“ [06.12.2007]

http://www.tagesschau.de/ausland/demonstrationenrussland116.html

kein plan wie aktiv die piratenpartei in russland ist….http://wiki.piratenpartei.de/Piratenpartei_Russland

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/moskau-ein-tag-im-ausnahmezustand-11558996.html

Moskau Ein Tag im Ausnahmezustand

11.12.2011  ·  Die Polizei hat sich korrekt verhalten und die Staatsmedien haben fair berichtet: Moskau hat die größte Kundgebung seit zwei Jahrzehnten erlebt. Während die Putin-Gegner demonstrieren, verhandelt die loyale Opposition über Posten.

Von Michael Ludwig, Moskau

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Russians protest against alleged vote rigging in Russia's parliam © dpaProtest gegen Wahlbetrug in Moskau

Mindestens fünfzigtausend Fäuste, vielleicht auch deutlich mehr, drohen zum Kreml hinüber. Ein gewaltiger Chor ruft durch den Moskauer Schneeregen: „Putin, du Dieb, du hast unsere Wählerstimmern gestohlen! Wir fordern ehrliche Wahlen! Freiheit! Putin, hau ab!“ Der Kreml liegt etwa einen Kilometer Luftlinie entfernt vom Bolotnaja-Platz an der Moskwa, außerhalb der Rufweite der Demonstranten. In den Kreml, den Sitz des russischen Präsidenten, will Wladimir Putin nach vier Jahren als Ministerpräsident im kommenden Frühjahr zurückkehren – womöglich für zwölf Jahre, die Dauer von zwei weiteren Amtszeiten. Seine Partei Einiges Russland wird von den Demonstranten nur „Partei der Betrüger und Diebe“ genannt.

Nina, eine Rentnerin, die in der Menge auf dem Bolotnaja-Platz an der Moskwa wie alle anderen friert, sagt, in Russland werde sich erst etwas ändern, wenn das Land nicht mehr von der Lubjanka aus regiert werde. Dort hatte einst der NKWD, Stalins politische Folterpolizei, sein Hauptquartier, dann der KGB. Jetzt nutzt den großen Bau der Inlandsgeheimdienst FSB, auf den sich die Herrschaft Putins gründet, der zugleich selbst die Kontinuität der Dienste verkörpert. Als junger Mann war Putin KGB-Agent, wurde dann Ende der neunziger Jahre Direktor des FSB und brachte die Seinigen später als Präsident in die wichtigsten Stellungen im Staat. Nina, die Anfang der neunziger Jahre auf den großen Demonstrationen dabei war, ist sich nicht sicher, ob bei einem neuerlichen demokratischen Versuch nicht die gleichen Fehler wie nach dem Ende der Sowjetunion wiederholt würden. Aber wenigstens einen Versuch sei es doch wert, von vorn zu beginnen, sagt sie.

„Unser Irrenhaus wählt Putin“ ist ein Hit

lol RABFAQ – Our nuthouse votes for Putin

Dann tritt auf der Bühne Rabfak auf, eine Rockband, die ein Lied eingespielt hat, das im Internet zum Hit geworden ist. Sie ist tatsächlich für viele zu hören, denn diesmal ist der Opposition der Einsatz leistungsfähiger Lautsprecher erlaubt worden. In den vergangenen Jahren mussten sich die Gegner des Kremls stets mit Megaphonen begnügen. Das Rabfak-Lied mit dem Titel „Unser Irrenhaus wählt Putin“ macht sich über den Kult um den „Führer der Nation“ lustig. Es war vor der Parlamentswahl als böse Satire auf russische Zustände erdacht, wurde aber durch die Realität bestätigt: In Moskau hatte Einiges Russland sein bestes Ergebnis mit etwas mehr als 90 Prozent in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt.

Aleksandr Semenow, der Bandleader, heizt der Menge ein, während immer mehr Menschen an der Drohkulisse aus Polizei, der Sondereinheit Omon und Soldaten der Streitkräfte des Innenministeriums vorbei auf den Platz strömen. Sogar die breite Fußgängerbrücke, die vom Platz über die Moskwa führt, ist bereits voll mit Putin-Gegnern besetzt. Es geht das Gerücht um, es bestehe Einsturzgefahr. Auch am anderen Ufer des Flusses, der hier nicht sonderlich breit ist, drängen sich die Moskauer. An den Brückengeländern hängen Transparente: „Abgeordnete, wir haben euch nicht gewählt! Die Wahl ist gefälscht!“

© dpa Der Bolotnaja-Platz an der Moskwa konnte nicht alle Demonstranten fassen. Auch auf Brücken und jenseits des Flusses drängten sich die Menschen

Auf dem Bolotnaja-Platz wird es immer enger. Schließlich erlaubt die Polizei, dass die Demonstranten in den benachbarten Park ausweichen dürfen. Dann folgt eine Rede auf die nächste. Boris Nemzow, Wladimir Ryschkow und Michail Kasjanow reden, die sich mit ihrer liberalen Partei Volksfreiheit an der Wahl beteiligen wollten, aber nicht durften, weil das Justizministerium sich sperrte, sie in das offizielle Parteienregister aufzunehmen.

Der Schriftsteller Boris Akunin – der derzeit wohl erfolgreichste Autor Russlands – und die Chefredakteurin der regimekritischen Zeitung „New Times“, Jewgenija Albaz, ergreifen das Wort. Sergej Mitrochin, der Vorsitzende der liberalen Jabloko-Partei, und ihr Gründer Grigorij Jawlinskij sind dabei. Es spricht Gennadij Gudkow von Gerechtes Russland, das einst als zweite Kremlpartei gegründet wurde. Für die Kommunisten, die mit offiziell etwa 20 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft geworden sind, spricht der Vorsitzende der Fraktion im Moskauer Stadtparlament, Andrej Klytschkow.

Kern der russischen Zivilgesellschaft

Die Dichter, Journalisten und Oppositionspolitiker sind sich einig: Hier auf dem Platz steht der Kern der russischen Zivilgesellschaft. Dass Zehntausende gekommen sind, macht sie selbstsicher. Sie, die in den vergangenen Jahren immer nur Prügel bezogen haben und verhaftet wurden, werden zunehmend siegesgewiss. Ihr gemeinsamer Nenner heißt: „Wir wollen von der Gaunerbande unser Land zurück!“ Aus der Menge wird dazu immer wieder im vieltausendfachen Chor gerufen: „Wir fordern faire Wahlen!“ – „Russland ohne Putin wird ein freies Land!“

In den zwölf Putin-Jahren habe sich Russland zurückentwickelt, sagt der bekannte Fernsehjournalist Leonid Parfjonow, der es vor einigen Monaten in einem furchtlosen Alleingang gewagt hatte, die politische Führung, die Intendanten der landesweit sendenden, vom Staat kontrollierten Fernsehsender, aber auch opportunistische Journalistenkollegen in den Staatsmedien öffentlich zu kritisieren. Wer behaupte, die russische Zivilgesellschaft demonstriere, weil die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton sie per SMS dazu aufgefordert habe, der sei hinterhältig oder nicht ganz bei Trost, sagt Parfjonow in Anspielung auf eine Äußerung Putins.

Angst ist gewichen

Der Mann, von dem die populär gewordene Losung, Einiges Russland sei die „Partei der Betrüger und Diebe“ stammt, kann nicht selbst sprechen: Der Blogger Aleksej Nawalnyj ist vergangene Woche nach einer Protestkundgebung gegen Wahlfälschungen zu 15 Tagen Arrest verurteilt worden. Aber seine Botschaft aus dem Gefängnis kann verlesen werden: „Unsere schärfste Waffe“, schreibt er, „ist die persönliche Würde, die man nicht abstreifen kann wie eine Jacke. Es ist an der Zeit, die Fesseln zu sprengen. Denn wir sind kein Vieh und keine Sklaven, sondern haben eine Stimme und besitzen die Kraft, um zu erreichen, dass sie gehört wird.“ Nawalnyjs Botschaft ist, man wolle keine Revolution, sondern einfach ehrliche Wahlen. Die Menge reagiert mit Beifall und Sprechchören: „Wir vergessen und vergeben nicht!“

Die Angst vor den Gummiknüppeln und den Arrestzellen ist, so scheint es an diesem Tag in Moskau, von den Menschen gewichen. Mindestens 50.000, die Organisatoren der Kundgebung sprechen im Überschwang der Gefühle zeitweilig sogar von mehr als 100.000 Demonstranten, sind eine Macht, gegen die die Sicherheitskräfte kaum vorgehen können. In den Tagen zuvor hatte es immer wieder nur halbherzig dementierte Berichte gegeben, in Moskau würden Truppen des Innenministeriums zusammengezogen.

Intelligenzija gibt hier den Ton an

Die Organisatoren, die von der größten Demonstration in Moskau seit zwei Jahrzehnten sprechen, fordern ein ums andere Mal Disziplin. „Bloß kein Blutvergießen!“ Sie widerstehen der Versuchung, zu einem Marsch vor den Kreml oder die Lubjanka aufzurufen. Als einer der Nationalisten, die sich in Stoßkeilen in die Menge geschoben haben und Fahnen des Zarenreichs schwenken, auf der Rednertribüne „hier und heute“ den Beginn einer „russischen Revolution“ einläuten will, wird er gellend ausgepfiffen. Hier gibt die Moskauer Intelligenzija den Ton an. Die Menschen folgen der Aufforderung der Organisatoren, den Platz der Demonstration friedlich und geordnet zu verlassen. In Moskau wird an diesem Abend keiner verhaftet. Die Opposition lobt die Polizei, sie habe sich „zum ersten Mal wie die Polizei eines wirklich demokratischen Staates verhalten“.

Zu diesen Ausnahmeerscheinungen fügt sich, dass sogar in den Abendnachrichten der staatlichen Fernsehsender über die Demonstrationen für ehrliche Wahlen in Moskau und in vielen anderen Städten Russlands berichtet wird. Die Frage ist nun, ob die fünfzigtausend vom Bolotnaja-Platz auch beherzigen, was die meisten Redner ihnen auf den Weg mitgeben. Dieser Tag, an dem viele aufgehört hätten, sich unter das Joch von „Betrügern und Dieben“ zu krümmen und zu fürchten, sei ein großartiger Anfang. Das Volk habe sich und seine Stärke wiederentdeckt. Nun müsse der politische Kampf organisiert weitergeführt werden, und die kommenden Kundgebungen derer, die nicht mehr mitspielen wollten, müssten wenigstens so zahlreich werden wie die vom Samstag – sonst könnte alles vergebens gewesen sein.

Auf einer anderen politischen Bühne Moskaus wird an diesem Samstag gefeilscht. Die systemkonformen Oppositionsparteien, die auch mit den Stimmen der Protestwähler stärker geworden sind, schachern mit Einiges Russland um Posten im neuen Parlament. Es sieht fast so aus, als würden Solidaritätsbekundungen Einzelner aus ihren Reihen mit den Menschen auf dem Platz, obschon sie ehrlich gemeint sein mögen, von den Parteiführungen nur als Trümpfe in diesem Pokerspiel genutzt. Jedenfalls entschließen sich weder Gerechtes Russland noch die Kommunisten – sie hatten ebenfalls von Wahlbetrug gesprochen – dazu, ihre Mandate zurückzugeben und dadurch eine Neuwahl zu erzwingen. Wladimir Schirinowskij von den nationalistischen Liberaldemokraten hatte den Moskauer Demonstranten sogar – darin Putin folgend – vorgehalten, im Auftrag des Auslands zu handeln.

Die Forderungen der Demonstranten sind einfach: Sie verlangen die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Annullierung der gefälschten Wahlergebnisse, die Zulassung aller politischen Parteien, eine neue, transparente und ehrliche Wahl und die Entlassung des Landeswahlleiters Wladimir Tschurow, der von Präsident Medwedjew am Wahlabend als „fast ein Zauberer“ bezeichnet worden war. Aber die Absetzung des „Zauberers“ steht nicht zur Debatte, wird am Sonntag mitgeteilt – er wird noch für die Präsidentenwahl im März gebraucht.